Wir Muslime neigen heute zu oft dazu, alle negativen Erscheinungen unserer Zeit kollektiv ‚dem Westen‘, ‚dem Kapitalismus‘ oder ‚den Andersgläubigen‘ und ihrer Kultur oder Lebensweise zuzuschreiben. Die Ursache für die Ausbeutung der Natur und des Menschen liegt in diesem einfachen Weltbild immer beim Anderen, aber nie bei einem selber.
Gleichzeitig reden wir inflationär von ‚islamischen Werten‘ und der ‚islamischen Zivilisation‘. Aber können wir auch definieren, was das genau sein soll, und können wir das auch in die Praxis umsetzen? Oder geht es bei dieser Rhetorik nur darum, dass man ‘dem Westen’ etwas entgegensetzt? Denn wenn wir uns heute die Realität in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften anschauen, dann sehen wir eine große Diskrepanz zwischen diesen ‘Werten’ und dem wirklichen geistigen und gesellschaftlichen Zustand dieser Länder.
Der grenzenlose Kapitalismus mit seinem Konsum- und Wachstumswahn hat immer zur Folge, dass das einerseits nur auf Kosten der Natur erreicht werden kann, aber auch durch Ausbeutung von anderen Menschen und ganzen Kontinenten. Nur sieht es in der sogenannten islamischen Welt wirklich anders aus? Wenn im Westen ganze Wälder gerodet werden, oder wenn europäische Konzerne Afrika oder andere Regionen auf der Welt ausbeuten, um ihren Gewinn zu maximieren, dann sind wir Muslime schnell dabei, die sogenannten westlichen Werte dafür verantwortlich zu machen und ihnen Doppelmoral vorzuwerfen. Aber seltsamerweise verstummen eben jene, die immer wieder von den ‘islamischen Werten’ sprechen, wenn in muslimischen Ländern die Natur oder durch eigene Konzerne einfache Arbeiter ausgebeutet werden. Die Überhöhung der eigenen vermeintlich islamischen Werte dient ihnen anscheinend nur dazu, den Anderen als etwas Niederträchtiges zu markieren. Das Gerede von Werten dient dann am Ende nur dazu, die eigene Gruppe gegen das Andere zu überhöhen.
Wenn es aber um die praktische Umsetzung dieser Werte geht, können diese jederzeit und je nach Konstellation plötzlich wieder abgewertet oder umgewertet werden. Man wird je nach Kontext recht flexibel und am Ende auch korrupt. Wen es einem wirklich um die real existierenden Ungerechtigkeiten in unserer Welt geht, muss man auch so aufrichtig sein, diese immer beim Namen nennen zu können, unabhängig davon von wem diese Ungerechtigkeit und Ausbeutung ausgeht. Am Ende ist das unsere Verantwortung vor Allah. Unser Prophet sagt sinngemäß in einem Hadith: “Wer von euch ein Unrecht sieht, der soll es mit seiner Hand abändern, wenn er nicht kann, dann mit seiner Zunge, wenn er nicht kann, dann mit seinem Herzen, und das ist Mindeste, was der Glaube erfordert.”
Diese Beliebigkeit der Werte, in dem diese jederzeit auf-, ab- oder umgewertet werden können, dient auch für eine künstliche Identitätskonstruktion, womit durch einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte Feindbilder kreiert werden. Diese Selbsttäuschung mag einen kurzfristig stärken und das Gewissen beruhigen, ist aber ein Anzeichen für eine mangelnde Sensibilität gegenüber der eigenen existenziellen Situation. Der türkisch-armenische Intellektuelle Hrant Dink hat es sehr gut auf den Punkt gebracht:
„Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“
Jenseits des inflationären und identitär gefärbten Geredes von Werten geht es im Kern um Verantwortung. Es geht um die Verantwortung vor seinem Schöpfer und seiner Schöpfung. Es geht um die Verpflichtung als Muslim, die oft viel besungenen Werte auch konkret zu leben und Worte und das Handeln in Übereinstimmung zu bringen. (eg)