Weitergeben

Ein Gastbeitrag von Katrin Visse

Gläubige, die in einer religiösen Tradition stehen, haben ihren Glauben als etwas gefunden – oftmals wiedergefunden – was ihnen lieb und kostbar geworden ist. Dieser Glaube ist nicht wie etwas Statisches oder Logisches immer schon da; und schon gar nicht ist er immer gleich groß und stark. Glaube kann klein sein wie ein Senfkorn und so groß, dass er Berge versetzen kann, und manchmal ist er auch einfach gar nicht da. Manchmal vermissen wir Gott, und vielleicht sind wir ihm im Vermissen sogar besonders nah.

Wer Kinder oder Enkel hat – oder einfach nur: wer andere Menschen liebt! – möchte, dass jene diesen Glauben auch haben, ihn finden und heben. Deswegen bringen wir unsere Kinder zur religiösen Unterweisung, wir versuchen ihnen Vorbild zu sein und gestalten die Feste zu unvergesslichen Erlebnissen, auf dass sie ebenso in unserer Tradition beheimatet sind, wie wir es gerne immer wären. Damit eben jene Tradition den Rahmen bildet, in dem ihr Glaube wachsen kann.

Aber wir müssen oft feststellen: Das ist nicht möglich. Denn Glaube kann nicht wie ein Paket einfach an den Nächsten weitergegeben werden. Dann wäre Glaube etwas Totes, ein Fossil, das niemandem im Leben etwas sagt. Glaube muss angeeignet und damit: verändert werden. Und auch für den Rahmen des Glaubens, für Tradition, gilt, dass jeweils die nächste Generation diese Tradition anders annimmt und versteht als diejenige vor ihr.
Das ist im Hinblick auf die eigenen Kinder manchmal schwer zu akzeptieren – im Rückblick auf unsere eigene religiöse Emanzipation von den Eltern oder von anderen Vorbildern erscheint es aber als eine notwendige Bedingung. Die Jungen leben ihren Glauben anders als ihre Eltern und sind ihm, diesem Glauben, gerade darin treu. Ja, noch mehr: Sie stellen sich damit, dass sie durch das Verändern die Tradition erhalten, gerade in diese Tradition hinein. Manches wird übernommen, manches verändert, manches fällt weg. Es geht etwas verloren, aber es kommt auch etwas Neues hinzu, eine neue Ausfaltung, ein neues Verständnis des Glaubens, das so vorher noch nicht da war.

Deswegen ist es nicht möglich, eine Tradition und alles, was dazu da ist, den Glauben sowohl zu zähmen als auch zu nähren, rein zu bewahren. Wir würden damit so tun, als gäbe es einen reinen Kern, der völlig frei von Kultur wäre. Besonders deutlich wird das, wenn wir uns vor Augen halten, wie reich die christliche und muslimische Tradition geworden sind, als sie ihr „Ursprungsland“ verlassen haben. Das war quasi von Beginn an! Religion gibt es eben nie in Reinform, sondern immer nur im Gewand derer, die sie uns überbringen. Aber welch schöne Gewänder sind darunter! Und manchmal auch hässliche Fratzen. Denn die Ausbreitung des Glaubens ist immer beides: Verlust und Gewinn zugleich. Jede neue Aneignung, jede Weitergabe, changiert zwischen einem immer tieferen Erschließen und einem weiteren Entfernen vom Ursprünglichen.

Gleichzeitig setzt Tradition nicht in jederlei Hinsicht Glauben und oder gar Verstehen voraus. Wir können sehr wohl etwas bewahren, was uns nichts sagt, was wir uns nicht angeeignet haben, oder wo wir anderer Meinung sind – oder von dem wir nicht wissen, warum das so ist. Das muslimische (und jüdische) Rechtssystem baut ja gerade darauf auf, dass auch die Meinungen tradiert werden, die man nicht teilt. Und Glaube wird ja auch daran manifest, dass man viele Dinge tut und feiert, obwohl man sie nicht versteht. Oder gerade weil man sie nicht versteht. Darin zeigt sich eine vertrauensvolle Haltung der Demut vor der Begrenztheit des eigenen Wissens: Die vielen, die mit mir in der Tradition stehen und noch stehen werden, bilden zusammen diese Tradition, die niemals eindeutig und immer plural ist. Damit wird gleichzeitig eine Fülle deutlich, die der einzelne kaum fassen und noch weniger glauben kann – widerspricht vieles in der Tradition einander doch auch oft.

Aber religiöse Tradition ist eben auch noch mehr, als Feste auf eine bestimmte Weise feiern, bestimmte Texte auswendig zu lernen oder zu lesen und sein Leben auf eine bestimmte Art und Weise zu gestalten. Tradition ist der Rahmen, in dem wir meinen, Gott nahe sein zu können, ihm zu begegnen und nach seinem Willen zu leben. Deswegen muss dieses Weitergeben, Bewahren und Erneuern diesem Inhalt entsprechen. Nicht etwas wird weitergegeben, sondern Tradition ist ein Geschehen, von dem sich Menschen ergreifen lassen und in das sie mit ihrer ganzen Person eintreten. Die Pointe besteht gerade darin, dass Menschen schlicht ihren Glauben leben und damit schon ein Teil der Tradition sind.
Es setzt auch voraus, dass wir nicht meinen, etwas weiterzugeben, was der Andere (vermeintlich) nicht hat, sondern, dass wir im Weitergeben von Tradition bereit sind zum Empfangen. Nur so kann anderes als das, was wir schon kannten, uns aufgehen oder in Erscheinung treten: Etwa, wenn wir im Gespräch mit Andersgläubigen eine neue Sicht auf den eigenen Glauben entdecken. Oder wenn Eltern bei dem Versuch, ihre Kinder mit der Tradition vertraut zu machen, etwas aufgeht, durch das sie sich selbst als Beschenkte erleben. Wir können nur mangelhaft weitergeben, aber gerade der Mangel kann Raum bieten für eine neue Fülle.

Weitergeben besteht also auch im Empfangen – vielmehr: sich beschenken lassen. Das ist freilich nicht immer der Fall, aber es mag auch ein Trost sein. Auch wenn es so viele Momente in der Geschichte gibt, in der die Weitergabe mehr einem Verrat gleicht und wir nicht wissen, wo wir uns Veränderungen schönreden, wo sie wirklich eine neue Facette des Glaubens hervorbringen oder wo wir wirklich laut widersprechen müssen – so gibt es doch eine Hoffnung und zugleich ein Kriterium: Wenn es in der Tradition darum geht, Gott nahe zu sein, dann wird und muss die Weitergabe, Ausbreitung und Veränderung dessen, wie Menschen glauben und diesen Glauben in ihrem Leben zeigen, diesem Gott entsprechen.