Was bedeutet es, Muslim zu sein? In unserer Kindheit haben wir in der Moschee gelernt, dass die „32 Pflichten“ (Türkisch „32 farz“) dazu gehören. Demnach realisiert sich der Glaube (iman) im Glauben an die Einheit Gottes, an die Engel, an die Offenbarungen und an die Propheten, an das Jenseits und dem Glaube daran, dass das Schicksal und alles Gute und Schlechte von Gott kommen. Die Umsetzung des Glaubens in die Praxis (islam) besteht im Aussprechen des Glaubenssatzes, im rituellen Gebet, dem Fasten im Ramadan, dem Zahlen der Armensteuer und dem Vollzug der Pilgerfahrt nach Mekka.
Das ist aber natürlich nicht alles. Heute glauben viele Muslime, das Tragen eines Kopftuchs und das Tragen eines Bartes und das räumliche und klangliche Abstandhalten zwischen nicht miteinander verheirateten Männern und Frauen gehöre ebenso zu den Glaubenspfeilern. Viele Muslime glauben auch, dass das Korrigieren von „Fehlverhalten“ von anderen Gläubigen ihnen Bonuspunkte bringt, die sie im Paradies einlösen können.
„Schwester, dein Hals schaut unter dem Kopftuch hervor“ oder „Schwester, da ist eine Haarsträhne“ gehören zu den Sätzen, die Kopftuchträgerinnen fast täglich hören. Noch schlimmer sind die Blicke auf eine vermeintlich zu enge Hose, auf den Knöchel am Handgelenk, wenn der Pulliärmel kurz hochgerutscht ist, oder die Reaktionen auf ein vermeintliches Zunahesitzen am männlichen Kollegen auf der Arbeit oder an der Uni. Auch beim Gebet heißt es oft: „Bruder, du hast deinen Fuß aber nicht richtig gehalten“.
So reden wir gerne über das Verhalten und Aussehen von anderen Musliminnen und Muslimen und erlauben uns schnell ein Urteil über ihren iman. Weil wir meinen, dass der Glaube sich äußerlich manifestiert.
In Zeiten von Social Media und der unbegrenzten Möglichkeit, dem Voyeurismus zu frönen und sich selbst dem Voyeurismus anderer preis zu geben, werden in Blitzgeschwindigkeit nicht nur Instagram-Stories durchgeklickt, sondern auch Screenshots hin- und hergeschickt. „Schau mal, wie viel Make-Up sie trägt“. „Ahmad ist wieder mit Murat unterwegs“. „Maschallah, Hatice und ihr Ehemann waren auf der Hajj. Taqabbal Allah“. Das Reden oder besser gesagt das Lästern über teilweise wildfremde Leute ist so selbstverständlich geworden wie das tägliche Teetrinken. Die nächste Stufe ist – und hier kommen die Muslime dann in den Bonuspunkte-Modus – die Ermahnung von „Brüdern“ und „Schwestern“, sich doch bitte islamkonform zu verhalten. Oder sollte man besser sagen: sich islamkonform zu präsentieren? Bloß nichts von sich geben, das andere Muslime falsch einordnen könnten. Bloß keine Videos von Madonna oder Metallica auf Facebook posten. In meiner Jugend lief das noch unter dem Stichwort: Bloß nicht auf der Hochzeit tanzen. Und wehe, du zuckst einmal mit dem Bein.
Die Kehrseite dieses Verhaltens wiederum ist die Selbstinszenierung als toller Muslim und supervorbildliche Muslima. Neben dem obligatorischen Selfie an der Kaaba (wo übrigens über hundert Jahre jegliche Kameras verboten waren) gehört das Posten von kitschigen islamischen Gedichten und Gebeten dazu. Das Zeigen, wie toll man die ibada macht.
Derselbe Menschenschlag gibt aber dann auch gut gemeinte Ratschläge von der Art „Du solltest nicht mit jenem Bruder Zeit verbringen, weil er einen schlechten Ruf als Muslim hat. Das könnte sich auf deinen Ruf abfärben“.
Hinter dem auf diese Weise geäußerten „guten Willen“ steckt in Wahrheit manchmal nichts anderes als reine Gehässigkeit. Als Muslime sind wir dazu angehalten, zunächst Gutes, und immer nur Gutes von unseren Mitmenschen zu denken. Denn wer nicht Allahs Geschöpfe liebt, der liebt auch nicht Allah.
In dem oben genannten Ratschlag heißt es nicht: Der Mensch hat einen schlechten Charakter, du solltest dich deswegen nicht mit ihm umgeben. Sondern: Was sollen dann die Leute über dich denken! Es geht also nicht um unseren Glauben, sondern darum, was andere von uns denken. Wie wir in der Betrachtung der anderen wirken. Das allzu schnelle Urteilen über vermeintliche „Schwächen“ der anderen Gläubigen schaut nur auf das Äußere. Es dient dazu, sich selbst als moralisch perfektes Wesen und als Gottesstatthalter auf Erden zu verstehen.
Dabei kennt niemand die Herzen der Menschen, außer Allah. Nur er weiß, warum jemand ein scheinbares Fehlverhalten an den Tag gelegt hat. Viele Menschen meiden die Moschee und halten sich von anderen Muslimen fern, weil sie zu viel Negatives erlebt haben. Weil die guten Ratschläge oftmals die persönliche Grenze überschreiten, teilweise beleidigend oder verletzend sind oder weil sie die Atmosphäre der Bespitzelung ihrer Privatsphäre nicht mehr ertragen können.
Was bleibt bei diesen Menschen zurück? Werden sie zu besseren Muslimen, wenn wir ihnen sagen, dass sie ihr Kopftuch besser nicht als einen halsfreien Turban, sondern als ein schulterbedeckendes Gewand tragen sollen? Werden sie häufiger in die Moschee kommen, wenn ihnen auf solche Weise signalisiert wird, dass ihr Glaube nur halb ist und sie daher eigentlich nicht willkommen sind in der Moschee? Nein. Es ist vielmehr ein psychischer und emotionaler Schaden, der bei den Menschen zurück bleibt. Ein Muslim ist jemand, der seinen Mitmenschen Sicherheit bietet. Dazu gehört auch die emotionale und psychische Sicherheit.
Der Glaube zeigt sich nicht am Äußeren. Kein Meter Kopftuch wird dich retten, wenn du ein abgrundtief schlechter Mensch warst. Kein Zentimeter Bart wird dir helfen, wenn du der Schöpfung und deinen Mitmenschen nicht Liebe und Freude, sondern Unheil und Leid gebracht hast. Ein nur nach Außen hin demonstriertes Gebet hat bei Allah keinen Wert. (ns)