Von beiden Seiten

Wir reden in den letzten Tagen häufig über unsere Erfahrungen von Rassismus, von Ausgrenzung und den willkürlichen Entzug oder das Vorenthalten von Zugehörigkeit.

Wir beklagen zu Recht die vielen Erlebnisse von Ungleichbehandlung, von Ungerechtigkeit und das, was diese Erlebnisse, diese Gefühle mit uns machen, in uns verändern.

Und so, wie sich verändert, was in uns ist – ob zum Guten oder zum Schlechten – so beeinflussen wir das, was um uns ist, was uns umgibt und die Bedingungen für unser Leben setzt.

Es geht dabei um Grenzen, die wir uns selbst und einander setzen. Wir nennen sie „Kultur“ oder „Tradition“ oder „Religion“. Mit diesen Grenzen versuchen wir, zu bestimmen, was uns eigen ist, was uns ausmacht und von anderen trennt.

Wir vergessen dabei, dass es Grenzen sind, die wir uns selbst setzen, um die Unermesslichkeit, um die grenzenlose Weite dessen, was uns als Schöpfung umgibt, überhaupt auf den beschränkten Rahmen unserer Einsichtsfähigkeit herunter zu brechen.

Wir machen uns dabei nicht bewusst, dass die Schöpfung Allahs diese Grenzen nicht kennt. Sie ist umfassend, alle und alles in diesem Reichtum vereinend. Wir alle blicken zum gleichen Himmel. Wir träumen alle beim Anblick der gleichen Wolken.

„Rows and flows of angel hair
And ice cream castles in the air
And feather canyons everywhere
I’ve looked at clouds that way“

Und wir erleben alle, dass manche unserer Träume nicht Wirklichkeit werden. Dass das Leben uns Prüfungen abverlangt, an denen wir zuweilen scheitern.

„But now they only block the sun
They rain and snow on everyone
So many things I would have done
But clouds got in my way“

Diese Ambivalenz, diese Mehrdeutigkeit begegnet uns in allem, was uns umgibt. Sie ist das Wesen der uns umfassenden Schöpfung und sie fordert uns ein Leben lang heraus.

„I’ve looked at clouds from both sides now
From up and down and still somehow
It’s cloud’s illusions I recall
I really don’t know clouds at all“

Wir leben und leiden in der gleichen Liebe, mit all ihren unterschiedlichen Momenten.

„Moons and Junes and ferries wheels
The dizzy dancing way you feel
As every fairy tale comes real
I’ve looked at love that way“

Der Freude. Und der Verzweiflung. Und wir erleben unsere Verletzlichkeit und die Kränkungen, die sie in uns verursacht.

„But now it’s just another show
You leave ’em laughing when you go
And if you care, don’t let them know
Don’t give yourself away“

Wir empfinden Bedauern, Menschen verloren zu haben, denen wir noch mehr Liebe hätten geben wollen, sie noch mehr hätten wissen lassen wollen, wie sehr wir sie liebten. Und dann ist da wieder dieses Gefühl der unendlichen Wärme und Geborgenheit, wenn wir in unvorhergesehenen Momenten, kleinen Augenblicken ahnen, spüren, wie sehr wir selbst geliebt werden.

„I’ve looked at love from both sides now
From give and take and still somehow
It’s love’s illusions I recall
I really don’t know love at all“

Wir alle sind hineingeworfen in das gleiche Leben. Die unterschiedlichen Bedingungen, die uns dabei mit auf den Weg gegeben sind, empfinden wir als schicksalhafte Grenzen. Die Nachteile empfinden wir als Ungerechtigkeit. Die Vorteile als vermeintlich verdienten Vorzug.

„Tears and fears and feeling proud,
To say “I love you” right out loud
Dreams and schemes and circus crowds
I’ve looked at life that way“

Wir verdrängen dabei, dass wir auf dem gleichen Weg der Prüfung sind. Wir alle verändern uns und wachsen an dem, was uns herausfordert. Wir freuen uns an Dingen und Ereignissen, die sich bald als schlecht und schädlich für uns erweisen. Wir hadern mit Rückschlägen und Niederlagen, die sich dann aber als Segen und größtes Glück für uns entpuppen können. So verlieren und gewinnen wir jeden Tag aufs Neue – selbst wenn wir nichts davon wissen.

„But now old friends they’re acting strange
They shake their heads, they say I’ve changed
Well something’s lost, but something’s gained
In living every day.“

All das verbindet uns. Auch über die von uns willkürlich und kurzsichtig gezogenen Grenzen von Herkunft, Sprache oder Glauben hinweg.

Denn Allah hat uns nicht voneinander getrennt erschaffen. Unsere Empfindungen und Erfahrungen einen uns viel mehr, als jede künstlich gezogene Grenze uns trennen mag. Und Allah wirkt hinein in diese Welt, um uns daran zu erinnern.

Vielleicht nicht so unmittelbar, dass wir sein Handeln erfassen können. Aber er strahlt ein in unsere Welt durch Bruchstellen unserer Existenz, so dass wir auch in Dingen, die uns scheinbar fremd sind, von denen wir scheinbar durch Grenzen der Sprache und Kultur getrennt zu sein glauben, uns selbst erkennen und von seinem Wirken berührt werden.

„I’ve looked at life from both sides now
From win and lose and still somehow
It’s life’s illusions I recall
I really don’t know life at all“

Natürlich geschieht dies auch durch Erlebnisse oder Personen, die wir nicht als muslimisch wahrnehmen. Denn alles, was uns umgibt, kommt von ihm und ist Ausdruck seines Willens. Und es sind gerade diese völlig unerwarteten Momente des kurzen Erkennens, der plötzlichen Ahnung, die uns vielleicht am meisten berühren und fasziniert erschaudern lassen angesichts seiner grenzenlosen Großzügigkeit und unserer geistigen Enge, mit der wir all das zu erfassen suchen.

Am Ende bleiben wir zurück mit dieser Ahnung seines Wirkens und einem Hinweis, der sich in unterschiedlichen Formulierungen so häufig wiederholt im Koran: „Wir wissen es nicht, aber Allah weiß es.“

So sitzt Joni Mitchell 1967 in einem Flugzeug und schaut aus dem Kabinenfenster auf die Wolken, die unter ihr dahinschweben. Sie schreibt dabei einen Song über das Träumen und die Ernüchterung, über die Liebe und das Leben.

Sie hat mit dem Islam in Gestalt eines konkreten Glaubensbekenntnisses vermutlich nichts zu tun. Aber wie sie beschreibt, wie unser Erleben doch so veränderlich und widersprüchlich sein kann – und uns alle am Ende zurückwirft auf die Ahnung, dass wir nichts wirklich wissen, da erkennen wir, dass jede und jeder, dass alles um uns mit dem Islam als Glaubenswirklichkeit zu tun hat.

Sie beschreibt Empfindungen und Einsichten, die uns allen vertraut sind und uns dadurch in unserer Menschlichkeit einen und anregen, die Grenzen zu überwinden, die uns scheinbar trennen.

Denn hier im Diesseits haben wir einander, um uns zu stützen in immer wiederkehrenden Momenten der Ratlosigkeit. Und was hätten wir denn gewonnen, außer Einsamkeit, wenn wir darauf verzichteten, einander beizustehen – wenn wir wieder einmal feststellen, dass wir gar nichts wissen? Leben wir dann nicht bloß eine eigensüchtige Illusion dessen, was unser Leben hätte sein und hätte verändern können?

„I’ve looked at life from both sides now
From up and down, and still somehow
It’s life’s illusions I recall
I really don’t know life at all“

(mk)

(https://m.youtube.com/watch?v=aCnf46boC3I)