Das Unrecht schlägt uns nicht wie ein nasses Handtuch ins Gesicht. Es fällt nicht über uns her. Es überwältigt uns nicht. Das Unrecht kommt nicht als Feind, nicht als zwielichtige Gestalt, vor denen wir uns fürchten. Das Unrecht stößt uns nicht ab, es erzeugt keinen Widerwillen in uns.
Das Unrecht nähert sich uns als alter Bekannter, als Vertrauter. Es zeigt sich uns im Gewand des Freundes, des Besorgten. Das Unrecht erscheint uns in Gestalt der Fürsorge und des legitimen Grundes. Es schleicht sich nicht von hinten an uns heran. Es sieht uns jeden Tag ins Gesicht, mindestens jeden Morgen im Spiegel. Es sagt uns, „Du hast Recht!“, „Du musst so handeln!“, „Es geht hier schließlich um Dich, um uns!“.
Das Unrecht stellt uns nicht infrage. Es lässt uns nicht innehalten und zweifeln. Das Unrecht bestätigt uns. Es redet uns von Tag zu Tag immer überzeugender ein, im Recht zu sein, rechtmäßig zu handeln. Das Unrecht fingiert Berechtigung und erobert uns im Sturm.
Das Unrecht ist rastlos. Es begnügt sich nicht damit, in einem fernen Winkel Geltung zu haben. Das Unrecht lässt sich nicht zähmen, nicht bändigen und einhegen. Erstarkt es in einem noch so winzigen Bereich, beginnt es, sich auszudehnen, um sich zu greifen. Das Unrecht, einmal zugelassen, kontaminiert jedes Denken, jedes Handeln.
Das Unrecht braucht nur einen kleinen Anstoß, um sich zu entfalten. Es begnügt sich mit einem ersten Moment des Zugeständnisses, dem einen Augenblick der Eigensucht, der einen Sekunde der Relativierung. Danach ist es wirksam genug, sich fortzupflanzen, sich zu vermehren und auszubreiten. Es begnügt sich danach mit der Gleichgültigkeit, der Untätigkeit der Massen. Es reicht, wenn alle schweigen und wegsehen, damit das Unrecht Wurzeln schlägt und sich festsetzt in unserem Alltag.
Wir haben uns viel zu lange an diese Zustände gewöhnt. Wir haben es verlernt, zu widersprechen, das Unrecht beim Namen zu nennen und mit dem Finger auf es zu zeigen, wenn es sich uns in der Verkleidung der sogenannten Realpolitik, der Staatsräson oder dem Streben nach vermeintlicher Sicherheit zeigt.
Was soll Sicherheit überhaupt sein? Wie sicher ist eine Welt, in der es das Leben hungernder Menschen kostet, uns das Gefühl von Sicherheit zu geben? Was ist denn gesichert, wenn wir jeden Tag leidende, sterbende, ertrinkende Menschen – Alte, Frauen, Kinder – hinzunehmen bereit sind? Eine Grenze mag dadurch „sicher“ bleiben. Unser Hab und Gut mag dadurch scheinbar „sicherer“ sein vor dem Zugriff anderer. Aber eine Seele, die für ihr Heil mit dem Leben anderer Menschen zu bezahlen bereit ist, wie sicher kann diese Seele sein?
„Wer einen Menschen tötet …, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte.“(vgl. 5, 32). Dieser Vers wird häufig zitiert, wenn es um die Friedensbotschaft des Islam geht. Aber vielleicht weist dieser Vers auf etwas anderes hin? Vielleicht mahnt uns dieser Vers, dass sich Unrecht nicht begrenzen lässt? Wir können nicht unrecht gegen ein Menschenleben handeln, ohne uns an dem Recht aller Menschen zu versündigen. Wenn wir bereit sind, diese eine Ausnahme zuzulassen, wenn wir bereit sind durch geistige Winkelzüge zu fingieren, dass ausnahmsweise das Unrecht in diesem einen Fall doch als Recht gelten soll, haben wir bereits das Tor aufgestoßen, dass uns alle der Gefahr aussetzt, dem Unrecht zu verfallen.
Wenn uns das Leben eines Flüchtlings, der im Mittelmeer ertrinkt, gleichgültig lässt, werden wir uns schon in kurzer Zeit auch nicht mehr um das Leben sorgen, das in unserer Mitte, mitten in unserer Gesellschaft, vor unseren Augen der Gefahr des Unrechts und der Vernichtung ausgesetzt wird. Wir sind dabei, immer weiter zu verrohen und wähnen uns doch in einem Stadium der endlich wachsam gewordenen Besorgnis.
Wir entdecken hin und wieder alte Fliegerbomben unter der Oberfläche unserer Städte. Sie stören uns dabei, wenn wir Parkplätze oder Hochhäuser bauen wollen. Wir haben Experten, die sich um diese Gefahren kümmern. Sie legen behutsam und gründlich den Sprengsatz frei, entschärfen und entsorgen ihn, damit niemand durch diese alten Bomben zu Schaden kommt.
Aber wir haben offenbar vergessen, dass es unsere gefährlichen, tödlichen Gedanken waren, die wir zuerst niederschrieben, dann in wütenden Reden in die Welt hinausschrieen, bis wir sie zu Waffen formten und Leid und Vernichtung über die Welt brachten. Es waren die Antworten auf diese menschenverachtenden Gedanken, die uns die Welt zurück in unser Land brachte und die uns heute in Gestalt dieser Fliegerbomben begegnen.
Und wir sind wieder dabei, zu übersehen, dass es wieder gefährliche, tödliche Gedanken gibt, die wie alte Sprengsätze unter der Oberfläche unserer Gesellschaft schlummern. Sie brechen die dünne Kruste unserer Zivilisation auf und treten ans Tageslicht wie die Untoten, die Untaten unserer menschenverachtenden Vergangenheit. Und sie sagen uns, dass es rechtens sei, Menschen für unseren Wohlstand sterben zu lassen, dass es rechtens sei, Menschen wieder in Lagern zusammenzupferchen. Sie wollen uns glauben machen, das Retten von Menschenleben sei als Verbrechen zu bestrafen.
Und wir sind wieder bereit, das alles zu glauben. Wir sind wieder bereit, das Unrecht zuzulassen, weil es sich für unsere Augen und Ohren angenehm tarnt.
Aber, wer heute bereit ist, zu glauben, das Retten von Menschen sei Unrecht und als Schlepperei oder Schleuserei zu bestrafen, der wird morgen bereit sein zu glauben, dass das Töten von Menschen rechtmäßige Pflichterfüllung sei. Wir haben nur die Gesetze befolgt, wir haben nur unsere Befehle befolgt, wird es dann wieder heißen. Denn das Unrecht lässt sich nicht eindämmen.
Wir sind wieder auf einem historischen Weg, der uns näher ans Unrecht führt und uns weiter vom Recht entfernt. Wollen wir auf diesem Weg wieder umkehren, brauchen wir Experten, die diese alten, gefährlichen Gedanken gründlich freilegen, entschärfen und aus der Mitte unseres gesellschaftlichen Diskurses drängen. Denn sonst schweigen wir wieder, während das Unrecht immer weitere Teile unseres Lebens umschlingt. (mk)