Wer wir sein wollen

Im August 2008 erstattete Marwa El-Sherbini Anzeige gegen Alex Wiens, der sie rassistisch beleidigte und trat im Verfahren als Zeugin gegen ihn auf. Als er sie erneut – diesmal im Gerichtssaal – verbal angriff, legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein, um ein höheres Strafmaß zu erreichen. Auch in dieser Verhandlung trat El-Sherbini als Zeugin auf. Wiens ging mit einem Messer auf sie los und stach 18-mal auf sie ein. Sie starb noch im Gerichtssaal. Wiens wurde im gleichen Jahr wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Es ist der erste antimuslimisch motivierte Mord in Deutschland.

Dieser Fall erweist sich auf verschiedenen Ebenen eine große Tragödie: El-Sherbini hatte alles richtig gemacht. Sie wurde Opfer einer rassistisch motivierten Straftat und wehrte sich dagegen mit den gegebenen rechtlichen Mitteln. Aber weder sie noch das Gericht rechneten mit dem Ausmaß des Hasses von Wiens. Wer wäre auch auf die Idee gekommen, dass jemand tatsächlich in einem Gerichtssaal und vor Zeugen solch eine Tat planen könnte. Es gab im Gerichtsgebäude keine Sicherheitskontrollen, sodass Wiens das Messer unbemerkt mit in den Gerichtssaal nehmen konnte. Das kostete die Leben von Marwa El-Sherbini und ihres ungeborenen Kindes. Ihr Ehemann, der ihr zur Hilfe eilte, erlitt nicht nur selbst Messerstiche von Wiens, sondern wurde auch von einem Polizisten angeschossen, da dieser ihn fälschlicherweise für den Angreifer hielt.

Vor dem Hintergrund dieser Geschichte könnte man schnell den Mut verlieren. Man könnte die Lehre daraus ziehen, dass es besser ist, sich möglichst unsichtbar zu machen. Bloß keine Kleidungstücke oder Symbole tragen, die einen als Muslimin/Muslim erkennbar machen oder in Diskussionen die eigene muslimische Identität ausklammern. Aber auch das wird keinen Schutz bieten – ganz bestimmt nicht in Zeiten, da es eine rechte Partei mit dem Schüren antimuslimischer Ressentiments in die Parlamente schafft.

Viele Betroffene rassistischer Übergriffe haben Angst, dass der Täter sie erneut angreifen könnte, wenn sie zur Polizei gehen, oder sie nehmen an, niemand würde ihnen glauben, oder sie haben selbst mit der Polizei schlechte Erfahrungen gemacht, oder, oder, oder. Hinzu kommt, dass der Ausgang einer Anzeige ungewiss ist und die betroffene Person sich mehrfach mit der Tat auseinandersetzen muss. Doch wer sich nicht wehrt oder gar versteckt, hat schon verloren. Nur wer das Wort ergreift gegen ein Unrecht, hat auch die Chance es einzudämmen – wenn wir uns mit diesem Menschen solidarisieren.

In allen Geschichten, die wir seit unserer Kindheit immer wieder hören, gibt es eine Botschaft: Habe den Mut, das Richtige zu tun. Vielleicht wird sie in unterschiedlichsten Formen wiederholt, weil es nicht immer so leicht ist zu erkennen, was denn das Richtige sein soll, oder weil es einfach leichter ist, es nicht zu tun.

Wenn es aber um rassistische Ressentiments geht – um Ausgrenzung und Angriffe aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe – ist das Richtige sehr eindeutig. Es gibt drei Dinge, die wir tun müssen: Rassismus benennen, uns mit den Betroffenen solidarisieren und die möglichen rechtlichen Wege gehen. So kommen wir unserer Verantwortung in einer von Diversität geprägten demokratischen Gesellschaft nach. Das bedeutet auch, dass wir uns nicht nur dann einmischen, wenn Musliminnen und Muslime angegriffen werden.

Wenn wir den Gleichheitsgrundsatz für uns beanspruchen wollen, müssen wir ihn auch für alle anderen gesellschaftlichen Minderheiten einfordern. Wie wir Grund- und Menschenrechte verstehen und im Alltag leben, definiert wer wir sind – als Gesellschaft.

“O ihr, die ihr glaubt! Seid standhaft gegenüber Allah als Zeugen für die Gerechtigkeit! Der Hass auf Leute verleite euch nicht dazu, feindselig zu sein, so dass ihr ungerecht handelt! Handelt gerecht, das kommt der Gottesfurcht näher. Und seid euch Allah bewusst.
Siehe, Allah ist vertraut mit dem, was ihr tut.” (05:08) (hk)