Im Ramadan erreicht die Spiritualität der Muslime ihren Höhenpunkt. Der Fastenmonat ist gesegnet von Gottesdiensten, die dem Gläubigen die Möglichkeit geben, körperlich und seelisch Allahs Nähe zu spüren. Sowohl das Fasten als auch das rituelle Gebet und die religiöse Pflichtgabe und Almosen sollen in diesem Monat intensiv verrichtet werden, so dass man sich im Alltag andere Prioritäten setzt muss, um von dem Segen des Ramadans möglichst viel zu empfangen.
Diese verdienstvollen Taten erfordern viel Zeit, die in den letzten zehn Tagen des Fastenmonats als itikaf bezeichnet wird. Man kann sich in eine Moschee oder einen anderen ruhigen Ort zurückziehen und sich dem Gebet, der Andacht und der Rezitation und des Studiums des Korans widmen. Bei diesem Rückzug erreicht man meditative Zustände, die dazu dienen sollen, ein besserer Mensch zu werden.
Betrachtet man allerdings den Ablauf des Ramadans bei den meisten Muslimen, so stellt man fest, dass für Spiritualität kaum Zeit bleibt: Hat die muslimische Mutter noch Energie, irgendetwas Spirituelles zu spüren, wenn sie sich den ganzen Tag alleine um den Haushalt kümmern und abends ihrer Familie und ihren Gästen ein Fünf-Gänge-Menü zaubern muss, weil es von ihr so erwartet wird? Ist man nicht nach so einem üppigen Essen eher mit Bauchkrämpfen beschäftigt und so dermaßen von Müdigkeit überfallen, dass man sich gar nicht dem rituellen Gebet widmen kann? Wieviel Zeit hat der ältere Onkel für seine persönliche Andacht, wenn er jeden Abend als Einziger die Moschee sauber macht, weil es sonst kein anderer tut? Wie sehr rauben Ramadan-Feste mit ihren Attraktionen unsere Zeit und lenken uns von der Beschäftigung mit uns Selbst ab? Fasten eigentlich unsere Zungen, wenn wir herabwürdigend feststellen und kritisieren, dass nicht jeder Muslim fastet oder fasten kann? Ist es möglich, das Herz mit Allahs Liebe zu füllen, wenn der Verstand mit weltlichen Dingen beschäftigt ist? Macht es Sinn, wenn wir unsere Seelen mit schädlichen Debatten und unnötigen Diskussionen stundenlang in Sozialen Medien „nähren“, während wir unserem Körper Nahrung entziehen? Tut es eigentlich noch im Herzen weh, wenn wir scheinheilig über Prophetenliebe sprechen und uns vorgaukeln, seine Sunna nachgeahmt zu haben, weil wir unser Fasten auch mit einer Dattel brechen – uns dann aber den Bauch vollschlagen?
Der Prophet wusste, dass ein voller Magen es verhindert, Gottesdienste zu verrichten und Allahs Nähe zu spüren. Er hielt sich tagelang zurückgezogen und abgeschottet von der restlichen Welt in der Höhle Hira auf, so dass ihm der Erzengel Gabriel die Offenbarung überbrachte. Er war ein sozialer Mensch und engagierte sich in seinem Ort und war sich für keine Aufgabe zu Schade. Vor allem kümmerte er sich um seine Aufgaben selbst und half mit im Haushalt oder in der Gemeinde, so dass eine ausgeglichene Arbeitsteilung zustande kam und jeder die Zeit für aufrichtige Gottesdienste hatte.
Die Prophetin Maria hielt nichts von auferlegten Geschlechterrollen und hörte auf ihr Herz und vollzog ihre Andacht in sich gekehrt tagelang vor einer Nische und erreichte einen tiefen Bewusstseinszustand, so dass ihr Körper gar nicht mehr das Bedürfnis nach Nahrung hatte.
Wenn wir heute durch das Fasten und in dem heiligen Monat Ramadan tatsächlich mehr Spiritualität und Allahs Nähe spüren wollen, dann sollten wir uns Gedanken über den Ablauf und die Gestaltung dieser segenreichen Zeit machen, denn sonst gehören wir zu „denjenigen, die vom Fasten nichts erreicht haben außer Hunger und Durst“. (sbk)