Anlässlich jedes Freitagsgebetes erleben wir Woche für Woche eine ganz wichtige, weil prägende Dimension unserer Religion. Im Gemeindegebet werden wir jede Woche mit der kollektiven Dimension unseres Glaubens konfrontiert. Unsere tägliche Erfahrung, dass Religion Privatsache ist, wird der Erfahrung, manchmal dem berührenden Moment, manchmal der schwierigen Zumutung ausgesetzt, dass Religion auch eine gemeinsame, eine gesellschaftliche, über die individuelle Erfahrung hinausgehende Wirkungsebene hat.
Wir sind dabei den Unterschieden ausgesetzt, die jede Muslimin und jeder Muslim durch ihre und seine ganz persönliche Aneignung des Glaubens zurück in die Gemeinschaft trägt. Wir erleben in Details unterschiedliche Gepflogenheiten des rituellen Gebets, der lauten oder leisen Rezitation, des Verhaltens während der Predigt oder auch unterschiedliche Gewohnheiten und Rituale der Gemeinschaft nachdem das Freitagsgebet verrichtet wurde.
Wir schauen uns einige Details vielleicht ab, die wir als schön und bereichernd empfinden. Dann wieder stören wir uns an bestimmten Verhaltensweisen der Mitbetenden. Oder werden gar von anderen ermahnt, die sich wiederum an unserem Verhalten oder an der Art und Weise unserer Gebetsverrichtung stören. Manches davon ist sicher gut gemeint, manches vielleicht übergriffig.
All diese Erlebnisse außerhalb unserer höchstpersönlichen Sphäre sind Erfahrungen, Herausforderungen, gar Zumutungen, die sich aus der Gemeinschaftlichkeit unseres Glaubens ergeben. Diese Erfahrungen bleiben aber nicht auf die muslimische Gemeinde beschränkt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der unser Glaube in weiten Teilen noch als fremd erlebt wird. Entsprechend vielschichtig sind die Erfahrungen, die sich aus dieser kollektiven, gesamtgesellschaftlichen Einbettung unseres Glaubens für uns persönlich aber auch als muslimische Gemeinschaft ergeben.
Wir machen viel zu selten die Erfahrung, dass unser Glaube für andere als Quelle der Inspiration dient, dass jemand außerhalb der muslimischen Gemeinschaft sich etwas, vielleicht auch nur ein winziges Detail, als Bereicherung für sein Leben abguckt. Viel zu häufig fühlen wir uns nicht bloß neugierig betrachtet, nicht bloß gesehen und gehört mit all dem, was wir als Bereicherung in die Gesellschaft tragen könnten, sondern misstrauisch beobachtet in dem, was wir glauben und wie wir diesen Glauben leben.
Diese skeptische Beobachtung, der wir seit vielen Jahren ununterbrochen ausgesetzt sind, verändert natürlich auch unsere Wahrnehmung des Glaubens und die Art und Weise, wie wir uns um ein besseres Verständnis unseres Glaubens bemühen. Weil die gesellschaftliche Betrachtung sich naturgemäß auf das Äußere konzentriert und auf die materielle Ebene unseres Glaubens, auf die religionspraktischen Details fokussiert ist, beginnen wir, auch uns selbst und unser Verständnis von Religion zu materialisieren, zu vergegenständlichen. Wir versuchen, unseren Glauben anhand konkreter, äußerer, buchstäblich greifbarer Details zu erklären und verständlich zu machen.
Wir erklären, welche unterschiedlichen Bedeutungen ein Kopftuch haben kann. Wir erläutern, warum die täglichen körperlichen Bewegungen während des Ritualgebetes sinnvoll sind für Berufstätige, die lange am Schreibtisch sitzen. Wir weisen darauf hin, wie viel gesünder andere Fleischsorten sind im Vergleich zum Schweinefleisch. Wir zitieren Statistiken zu den negativen gesellschaftlichen Folgen des Alkoholkonsums. Und wir führen japanische Nobelpreisträger als Kronzeugen ins Feld, um deutlich zu machen, wie gesund das Fasten für die Selbstheilungskräfte auf Zellebene ist. Gerade jetzt im Ramadan sind wir zu Experten für die positiven Wirkungen des intermittierenden Fastens und der „One Meal a Day“-Diäten geworden.
Aber auf diese Weise haben wir doch nicht gelernt, unseren Glauben zu erfahren. Wir haben die Schönheit unseres Glaubens doch nicht in Statistiken gefunden oder in den Nährwertangaben zu Schweineschnitzeln. Wir haben doch die Rezitation von Koranversen nicht gelernt, weil wir eine zusätzliche Fremdsprache beherrschen wollten.
Die intensive Erfahrung, ja das Wunder, auch ohne Arabischkenntnisse allein durch den Klang laut rezitierter Koranverse im Innersten berührt und zu Tränen gerührt zu werden, können wir rational nicht erklären. Und dennoch bleibt diese Erfahrung lebendig und fasziniert uns immer und immer wieder. Gerade jetzt im Ramadan erleben wir doch, mit wie wenig wir erfüllt und zufrieden sein können im Vergleich zu dem Übermaß, das wir sonst täglich an Ressourcen geradezu verschlingen und damit verschwenden und damit auch anderen wegnehmen. Und wie leicht Dinge möglich sind, die uns unmöglich erscheinen.
Und wenn es da einen Schöpfergott gibt, eine allmächtige Instanz, die uns und alles um uns erschaffen hat und der wir eines fernen oder nahen Tages entgegentreten werden, um Rechenschaft abzulegen und um die Vergebung unserer Torheiten zu bitten. Wenn es also diesen Gott gibt und wir nicht nur an ihn glaubten, sondern ganz konkret um seine Existenz wüssten, was wäre da natürlicher und verständlicher, als sich mehrmals täglich in Ergebenheit vor ihm niederzuwerfen? Und all seinen Dank und seine Hoffnung nur an ihn zu richten?
Nicht das, was wir erfassen können, wird die Schönheit unseres Glaubens sichtbar werden lassen. Nur wenn es uns gelingt, die Ästhetik unseres Glaubens, die innere Rührung, die wir empfinden, die Wärme und Hoffnung, die wir aus dem Glauben schöpfen nach außen und hinein in die Gesellschaft zu übersetzen, wird es auch für andere nachvollziehbar werden, warum es für uns Muslime schön ist, Muslime zu sein.
Nur wenn wir das verändern, was in unserem Inneren ist, wird sich verändern, was uns umgibt. Mögen die weiteren Tage des Ramadan und des Fastens uns dieser Einsicht näher bringen. (mk)