Gefäß ohne Inhalt?

Der muslimische Gelehrte Muhammad Iqbal hat im Zusammenhang mit den Zuständen in islamisch geprägten Gesellschaften ausgeführt: Wenn wir andere Menschen davon überzeugen wollen, dass der Islam ein heilbringendes, ein segensreiches Wertesystem ist, müssen wir ihnen zunächst versichern, dass wir keine Muslime sind.

Das ist eine gleichermaßen deprimierende wie zutreffende Bestandsaufnahme. Und sie hat seit dem Tod Iqbals im Jahr 1938 leider nichts an Aktualität verloren.

Als Muslime verfallen wir seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten den immer gleichen Denkfehlern, denen wir auch heute noch allzu leicht zu folgen bereit sind.

Wir sind uns als Muslime gewiss, dass wir mit dem Koran das offenbarte Wort Gottes in Händen halten. Wir verfügen also über eine Textquelle von unermesslichem Wert. Da das Wort Gottes allen Menschen über alle Grenzen von Zeit und Ort hinweg offenbart ist und sie einlädt, dieser Offenbarung zu folgen, kann unsere Gegenwart nur unvollkommen sein, da nicht alle Menschen diese Einladung annehmen.

Weil die nichtmuslimische Welt aber in dieser Unvollkommenheit hinter den Ansprüchen und den Werten des offenbarten göttlichen Wortes zurückbleibt, neigen wir sehr schnell dazu, dies als Zeichen für unsere Überlegenheit als Muslime zu deuten. Denn wir sind ja jene, die das Wort Gottes besitzen.

Diese letzte Schlussfolgerung ist reiner Selbstbetrug. Denn die harte Wirklichkeit zeigt uns eines ganz deutlich: Ja, die gegenwärtige Welt bleibt hinter dem Anspruch des Koran an eine gerechte Welt, an eine Welt des Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit weit zurück. Nur die schmerzliche Tatsache ist, dass wir Muslime sogar hinter diesen gegenwärtigen Zustand der Welt zurückfallen.

Und wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung stehlen und diesen Rückstand einzig auf die Ausbeutung durch andere oder auf die Ungerechtigkeit durch Dritte zurückführen. Gott ist größer als jede historische Tragödie. Gott ist größer als jede Verschwörungstheorie. Wer das offenbarte Wort Gottes in Händen hält, darf die Schuld für seinen Rückstand in der Welt nicht bei anderen suchen, nicht menschliches Fehlverhalten anderer als bequeme Ausrede für das eigene Versagen gebrauchen.

Wer das offenbarte Wort Gottes in Händen hält muss nur hineinblicken, um die offene Kritik Gottes an jenen, denen der Koran anvertraut wurde, zu erkennen. Im Koran selbst lässt Gott seinen Propheten reden und erhebt eine offene und unmissverständliche Klage gegen uns Muslime.: „Und der Gesandte sagte: ‚Mein Herr! Gewiss, meine Leute vernachlässigen den Koran.‘“ (Sure 25, Vers 30) Im Original heißt es „Ve kaler resulu ya rabbi inne kavmittehazu hazel kur’ane mehcuran“.
Der Vorwurf wird mit dem Wort „mehcuran“ beschrieben. Es bedeutet, sich abwenden, etwas zurücklassen, etwas verlassen, den Rücken kehren, etwas nicht mehr beachten.

Was macht uns so sicher, dass dies nur eine historische Anklage des Propheten (s.a.s) gegenüber seinen die Offenbarung leugnenden Zeitgenossen ist?

Über Jahrhunderte hinweg haben wir Muslime immer wieder uns genehme Verse des Koran herangezogen, um unsere Ansichten zu stützen und auch oft genug unsere menschlichen Schwächen, willkürlichen Begierden und politischen Interessen zu rechtfertigen.
Aber wenn es um diese universelle, überzeitliche Anklage des Koran geht, warum sollen wir sie nur als historische Aussage ohne Bedeutung für unser Leben heute begreifen?

So wie wir den historischen Kontext von Versen berücksichtigen müssen, wenn wir Koranverse auslegen und zu verstehen versuchen, müssen wir ebenso uns stets vor Augen halten, dass diese Verse eine über den historischen Kontext hinausgehende, überzeitliche Bedeutung und Botschaft enthalten können. Gerade das macht den wundersamen, göttlichen Charakter der Offenbarung aus.

Wir sind zu einer Gemeinschaft geworden, die sich intensiv damit beschäftigt, „wie“ wir unseren Glauben praktizieren. Welche rituellen Voraussetzungen das Gebet hat, wie wir unsere Füße und Hände beim Gebet bewegen, wie wir angezogen sind, wie wir fasten, wie wir essen. Die Form unseres Glaubens ist uns wichtig und nimmt einen großen Teil unserer Glaubensaneignung und -praxis ein.

Nur „warum“ und „was“ wir glauben, darüber machen wir uns kaum Gedanken. Das Mittel der Glaubenspraxis ist nahezu zum Selbstzweck mutiert, ohne dass wir uns über den Sinn und Zweck unseres Glaubens Gedanken machen oder nach Antworten suchen, was die Substanz unseres Glaubens ausmacht.

Selbst religionspolitische Auseinandersetzungen über Haltungsfragen im Glauben, über die beliebten Floskeln des „konservativen“ oder „liberalen“ Islam, führen wir anhand von Äußerlichkeiten – wer mit wem in welcher Reihe betet, reicht bereits aus, um eine inhaltliche Relevanz dieser Fragen vorzugaukeln. Eine Antwort auf die Frage, warum wir glauben, was unseren Glauben ausmacht, vermag auch eine vermeintlich „liberale“ Platzverteilung während des Ritualgebetes nicht zu liefern.

Ein islamisches Gebet nur mit weltlicher Lyrik, ganz ohne die Rezitation von Koranversen ist in einem solchen Zustand der Fixierung auf die Form des Glaubens ebenso möglich, wie ein traditionelles Ritualgebet, das von Anfang bis Ende von Koranversen begleitet ist – über deren inhaltliche Bedeutung und den Sinn und Zweck ihrer Offenbarung die Gemeinde aber überhaupt nichts erfährt. Beides bleibt bloß Form, nur äußere Gestalt.

Warum hat Gott uns sein Wort offenbart? Von dieser Frage dürfen wir Muslime uns nicht länger abwenden. (mk)