Wir reden oft über den Islam und über Allah, diskutieren über Auslegungen des Koran und debattieren über verschiedene islamische Strömungen. Jeder von uns versucht ein guter Muslim oder sogar der bessere Muslim zu sein. Wir verteidigen aufs Äußerste „unseren“ Islam und missachten alles andere was nicht dieser Vorstellung entspricht und merken dabei nicht, dass wir kleine Stammeskriege führen…
Wie eingeschränkt unsere Denkmuster sind wird bei Sure 2, Vers 115 klar: „Und Allah gehört der Osten und der Westen; wo immer ihr euch also hinwendet, dort ist Allahs Angesicht. Wahrlich, Allah ist Allumfassend, Allwissend.“ Dieser Vers zeigt uns, dass unsere Religiosität nicht territorial begrenzen dürfen, auch haben wir nicht das Recht, den Islam als eine Nation für uns zu beanspruchen. Der Osten und der Westen stehen nicht nur für das Abend- und Morgenland, man kann diese Dualität auf viele Bereiche übertragen: deutsch – türkisch, Mann – Frau, Diesseits- Jenseits usw. Es geht vielmehr darum, diese Dualität zu überwinden, um dann Allah begegnen zu können, der eben allumfassend ist.
Dem menschlichen Verstand fällt es manchmal schwer, diese Grenzenlosigkeit zu erfassen. Vielleicht liegt genau dort das Problem, wenn wir versuchen, alles nur mit dem intellektuellen Verstand zu erkennen und zu deuten. Erinnern wir uns an die Anekdote von Mawlana und Shems. Shems konnte nur dann als Sonne Mawlana erhellen, als er sich bereit erklärte sich von seinen geliebten Büchern zu trennen und diese sogar zu verbrennen. Ein symbolischer Akt, den intellektuellen Verstand beiseite zu legen und sich für neue Erfahrungen zu öffnen, für die es keine örtlichen und zeitlichen Grenzen gibt. Natürlich ist der Verstand sehr wichtig, um sich Wissen anzueignen. Mawlana wäre nicht der angesehenste Gelehrte seiner Zeit gewesen, hätte er sich nicht ein breites Spektrum an theologischem Wissen und anderer Disziplinen angeeignet. Dieser immense Input reichte jedoch nicht, seine Sehnsucht nach der Begegnung mit Gott zu stillen, sodass Shems in sein Leben eintrat und ihn verschiedene meditative Techniken lehrte, Allahs Nähe zu erfahren…
Wenn wir jetzt den Vers „Und Allah gehört der Osten und der Westen; wo immer ihr euch also hinwendet, dort ist das Antlitz Allahs. Wahrlich, Allah ist Allumfassend, Allwissend.“ nicht nur rezitieren, sondern auch spüren und unter die Haut gehen lassen, erkennen wir, dass wir Allah nicht auf bestimmte Orte, Bücher, Glaubensrichtungen oder Gemeinden begrenzen können. Er ist Allumfassend und Allgegenwärtig. Es ist überhaupt nicht wichtig, ob wir türkische, arabische oder deutsche Muslime sind oder ob wir das Gebet in Mekka oder München verrichten. Dieser Vers verwehrt uns, Allah, der Allumfassend ist, in unserer Vorstellung einzugrenzen und einzuschränken. Stattdessen sollten wir dem Gespürten mehr Aufmerksamkeit geben, denn Er ist uns näher als unsere Hauptschlagader (50:16). Das ist die Ergebenheit in Gott selbst, die wir anstreben, wenn wir Islam definieren.
Vor lauter Beschäftigung mit dem Islam und Allah und mit unseren automatisierten religiösen Ritualen verdrängen wir manchmal nur das Gefühl in uns, das sich zur Begegnung mit Allah sehnt. Es gehört Mut dazu, in sich zu kehren. Denn unsere Nafs gaukelt uns vor, dieser Gotteserfahrung nicht würdig zu sein, da wir sündhaft und schwach seien. Wenn wir jedoch erkennen, dass wir Menschen aus Fleisch und Blut sind und unsere Schwächen und Sünden zu unserer Weiterentwicklung zum gläubigen Menschen beitragen können, dann verstehen wir auch warum Allah sagt: „Nichts kann Mich aufnehmen, weder der Himmel noch die Erde, nur das Herz der Gläubigen. Ich bin dort.“ Allah ist in den Herzen der Gläubigen, die ihre Schwächen erkennen, daran arbeiten und Platz für Liebe schaffen. Denn Liebe ist das Fundament der Schöpfung. (sbk)