Auch dieses Jahr feiern wir wieder das islamische Opferfest. Wir sind in Gedanken bei unseren Glaubensgeschwistern in Mekka, die ihre Pilgerreise mit dem Ritus der Schlachtung eines Opfertieres beenden. So wie sie sind auch wir hier in Deutschland dazu berufen, dieses hohe Fest unseres Glaubens mit der Schlachtung eines Opfertieres zu begehen.
Alljährlich ist dieses Opferritual aber auch Anlass zu mannigfaltigen Diskussionen und Kontroversen. Und damit einmal mehr ein Hinweis für uns Muslime, dass wir unseren Glauben nicht in der richtigen und verständlichen Weise zu vermitteln in der Lage sind. Dabei ist gerade das Opferfest wie kein anderer Anlass dazu geeignet, die Essenz des Islam, die Kernaussagen des Islam verständlich zu machen.
Vielleicht geht unser Problem noch weiter und über die Schwierigkeiten der akkuraten Glaubensvermittlung hinaus. Vielleicht sind die Diskussionen auch ein Hinweis für uns, dass wir uns vom Kern unseres Glaubens entfernt haben. Darüber nachzudenken, soll uns das diesjährige Opferfest Mahnung sein.
Oft genug erklären wir das Opferfest als ein Gedenken an Abrahams Bund mit Gott und seine Opferbereitschaft als Ausdruck höchster Gottergebenheit. Abraham, der zum Beweis seiner Treue gegenüber Gott sogar dazu bereit war, seinen Sohn zu opfern, gilt uns als Beispiel für die vorbildliche Ergebenheit des Gläubigen.
Die traditionelle Sicht auf Frömmigkeit als einen Akt der ultimativen Bereitschaft zur Tötung eines Menschen, müssen wir aber skeptisch betrachten. Die Gedankenfigur, dass es ideelle Werte gebe, zu deren Erhalt oder Beweis das Töten eines Menschen legitim sei, ist höchst problematisch und angesichts der Herausforderungen unserer Gegenwart unbedingt kritisch zu diskutieren.
Viele kritische Stimmen sehen in dem Opferritual einen aus der Zeit gefallenen, längst überholten Akt der Opferbereitschaft. Gerade das Schlachten eines Tieres und das Verteilen seines Fleisches wird als eine verschwenderische, archaische Buchstabengläubigkeit gedeutet, die nicht mehr zu den Realitäten unserer Zeit passe, denn niemandem mangele es an Fleisch in unserer Gesellschaft.
Stattdessen müsse man dieses Ritual nur nach seinem Sinn und Zweck her deuten und historisch-kritisch einhegen. Es komme nur darauf an, etwas zu opfern, was einem wichtig ist. Sich einzuschränken, vielleicht etwas zu spenden und so den sozialen Gedanken der Hilfsbereitschaft lebendig zu erhalten.
Nichts wäre kurzsichtiger. Denn das Opferfest ist nicht die einmal jährlich betriebene Armenspende im Gestus des vermögenden Gönners.
Gott selbst hat uns im Koran eine andere Botschaft des Opferfestes anvertraut. Diese Botschaft müssen wir heute und in Zukunft wieder erkennbar machen:
In Sure 22, Vers 37 heißt es mit Hinweis auf das Opferritual: „Ihr Fleisch erreicht Allah nicht, noch tut es ihr Blut, sondern eure Ehrfurcht ist es, die Ihn erreicht. In der Weise hat Er sie euch dienstbar gemacht, auf dass ihr Allah für seine Rechtleitung preist. Und gib denen frohe Botschaft, die Gutes tun.“
Wie so häufig, bleibt eine sprachliche Übersetzung der im Original vorliegenden Formulierungen unvollständig und kann die wundersame Bedeutungsvielfalt der göttlichen Offenbarung nicht in Gänze wiedergeben. Das, was Gott erreicht, wird mit Taqwa beschrieben. Taqwa ist nicht nur Ehrfurcht oder Gottesfurcht. Sie wird beschrieben als ein Erzittern, ein Erschaudern des Herzens (Sure 22, 35) oder auch als Bescheidenheit und Demut (Sure 22, 34). Taqwa wird als eine Haltung beschrieben, die im Gegensatz zur Götzenverehrung steht und in welcher der Mensch davor zurückschreckt, sich Gott gegenüber aufzulehnen (Sure 22, 32).
Jene, die Taqwa zeigen, sind „muhsin“. Der Koran spricht im Plural von „el muhsinine“. „Muhsin“ leitet sich ab vom Wortstamm „hüsn“, dem Begriff für das Gute, das Schöne. Also sind jene, die Taqwa zeigen, jene, die das Schöne und das Gute tun. In Sure 5, Vers 8 werden jene, die der Taqwa näher stehen, als jene beschrieben, die gerecht handeln.
Taqwa ist also nicht lediglich eine individuelle Spiritualität, eine persönliche Form der Demut vor Gott. Taqwa verpflichtet zum Einsatz für seinen Nächsten, zum gerechten Handeln, zum Mehren des Guten und des Schönen in der Welt.
In Sure 51, Vers 19 werden jene, die Taqwa zeigen, als jene beschrieben, an deren Vermögen Bedürftige ein Anrecht haben, die aus Not darum bitten und solche, die aus Scham nicht darum bitten können. Im Original heißt es in diesem Vers: „Ve fi emvalihim hakkun lis saili vel mahrumi.“ Das entscheidende Wort ist „hakkum“, das einen Anspruch, ein Anrecht beschreibt.
Beim Opferfest geht es also nicht um eine Spende, ein Almosen, eine Armenspeisung oder eine Hilfestellung. Mit dem Opferfest erinnert uns Gott daran, dass andere Menschen, die nicht in dem Wohlstand leben, mit dem wir gesegnet sind, einen Anspruch darauf haben, an diesem Wohlstand teilzuhaben.
Mit dem Opferfest erinnert Gott uns daran, dass wir Geschöpfe sind, die sich von anderen Geschöpfen ernähren, die andere Geschöpfe opfern, um dank ihres Fleisches und ihres Blutes im Wohlstand leben zu können. Dieser materielle Wohlstand verbleibt in unserem Besitz. Er erreicht Gott nicht. Gott setzt aber voraus, dass wir uns dieser Zustände bewusst sind. Dass wir begreifen, dass wir auf Kosten anderer leben. Das unser Wohlstand durch den materiellen Verlust anderer erzielt wird.
Damit ermahnt uns Gott zur Mäßigung und zur Zähmung unserer Gier und unserer Unersättlichkeit.
Würden wir uns an das Gebot halten, nur Fleisch zu verzehren, das wir unter Anrufung Gottes eigenhändig schlachten oder zumindest anwesend sind und das Tier festhalten, während ihm sein Leben genommen wird, um uns Wohlstand zu bescheren, welche Form der Lebensmittelindustrie hätten wir dann? Würden wir dann noch das gleiche Ausmaß an Leid verursachen, mit dem wir uns gegenwärtig in der Massentierhaltung an dem Leben unserer Mitgeschöpfe versündigen?
Mit dem Opferfest und dem ganz konkreten Ritual der Opferschlachtung erinnert uns Gott daran, dass Fleisch für uns etwas ist, über das wir im Übermaß verfügen. Dabei berauben wir andere Menschen ihres Anrechts auf ein würdiges Leben, indem wir auf den Äckern dieser Welt immer mehr Tierfutter für unser Bedürfnis nach billigem Fleisch, für unseren Wohlstand produzieren, während gleichzeitig Menschen in unserer globalen Nachbarschaft verhungern, weil auf ihren Äckern nichts mehr gedeiht.
Und mehr noch: Wir sind bereit, diese bedürftigen Menschen im Meer vor unserer Haustür zu Hunderten ertrinken zu lassen, nur weil wir Angst davor haben, ihr Anrecht auf Teilhabe an unserem Wohlstand anzuerkennen.
Mit dem Opferritual gebietet Gott uns, einen Teil unseres Wohlstandes zu opfern und den Ertrag mit anderen Menschen zu teilen. Das ist Taqwa, die Demut, mit der unsere Herzen erzittern sollen, damit wir nicht vergessen, gerecht zu handeln, Gutes und Schönes zu verrichten.
Stattdessen sind wir aber eher dazu bereit, andere Menschen zu opfern, damit sich unser Wohlstand nicht um ein Jota verringert. Und unsere Herzen erzittern dabei kein Bisschen.
Deshalb sollten wir das Opferfest nicht nur als Fest der Freude und der Feierlichkeiten begehen. Wir sollten uns und unser Gewissen prüfen, ob wir mit Taqwa im Herzen uns stets für das Gute und Schöne, ob wir uns für Gerechtigkeit einsetzen. Gott muss offensichtlich daran zweifeln – denn er erinnert uns jedes Jahr mit dem Opferfest aufs Neue daran, unsere Herzen erschaudern zu lassen. (mk)