„Er ist Allah, der Schöpfer, der Erschaffer, der Gestalter. Sein sind die schönsten Namen. Ihn preist alles, was in den Himmeln und auf der Erde ist. Und Er ist der Allmächtige und Allweise.“ In diesem 24. Vers der Sure 59 werden einige der schönen Namen Gottes hervorgehoben. Im arabischen Original heißt es „Huvallahul halikul bariul musavviru lehul esmaul husna“. Zu diesen zitierten „esmaul husna“, zu den schönen Namen, gehören „Haalik“, der Schöpfer, „Bari“, der aus dem Nichts Erschaffende, „Musavvir“, der Bildende, der Gestaltende.
„Musavvir“ ist ein Name Gottes, in welchem sich das menschliche Bedürfnis widerspiegelt, seinem Innersten, seiner Suche nach Gott, seiner Sehnsucht nach einem besseren Verständnis seiner menschlichen Beziehung zu Gott, Ausdruck verleihen, Gestalt geben zu wollen.
In diesem Namen, „Musavvir“, findet sich sowohl der über alle Zeiten und in jeder menschlichen Zivilisation vorhandene Impuls der gestaltenden und bildenden künstlerischen Verarbeitung menschlicher Eindrücke; die über eine bloße gegenständliche Funktion hinausgehende, Hoffnungen, Ängste, Widersprüche und Gefühle sichtbar machende gestalterische, ja schöpferische Natur des Menschen. Als auch die Hybris des Menschen, in der Ahnung seines eigenen göttlichen Ursprungs den schöpferischen Akt nachahmen und sich über die Grenzen seiner Unvollkommenheit und Fehlbarkeit erheben zu wollen.
Dies ist der ewige Widerstreit zwischen der sich nach der Nähe zum Schöpfer sehnenden Natur des Menschen, seinem Nafs, und der in diesem Nafs angelegten Neigung des Menschen zum Hochmut, zu seiner Selbstüberschätzung bis hin zur Anmaßung quasi göttlicher Kraft. Es ist das Wissen um diesen inneren Widerstreit des Menschen, warum das islamische Glaubensbekenntnis mit einer Negation beginnt: „la ilaha illallah“ – Kein Gott, außer Gott.
Und gerade in der Beschäftigung mit „Musavvir“, mit der bildenden, gestaltenden Sehnsucht des Menschen, wartet auf uns auch an völlig unerwarteten Orten die Einsicht in diesen inneren Widerstreit des Menschen:
In Rom steht die Kirche San Pietro in Vincoli. In ihr befindet sich das von Michelangelo gestaltete Grabmal für Papst Julius II. mit der zentralen Figur des Moses. Nach der Sixtinischen Kapelle ist diese zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus Carrara-Marmor geschaffene Skulptur wohl eines der wichtigsten Werke Michelangelos. Die 2,35 m große Skulptur zeigt Moses in sitzender Position, in dem Augenblick als er mit nach links gewandtem Kopf sein Volk erblickt, das um das goldene Kalb tanzt. Sein linker Fuß ist nach hinten versetzt und wird im nächsten Moment den Körper in die Höhe stoßen. Seine linke Hand ruhte eben noch im Schoß, den langen Bart umgreifend, aber der linke Arm ist schon in Spannung, um sogleich die Hand zu heben. Die rechte Hand, die eben noch die Gesetzestafeln fest umklammerte, lockert sich, als ob die Tafeln ihr zu entgleiten drohen. Gleich wird Moses sich erheben und wie in der biblischen Erzählung geschildert, die Gesetzestafeln auf dem Boden zerschmettern, weil sein Volk das göttliche Bilderverbot übertreten hat. Diesen Übergang von beherrschter Ruhe des vom Berg Sinai hinabgestiegenen Moses zum grimmigen, zürnenden Propheten, diese Sekunde der sich aufbauenden Spannung im Augenblick der Wut über die Verfehlung des Menschen hält die Skulptur in beeindruckender Weise fest.
Und der tiefe Widerspruche des Menschen im Angesicht Gottes wird in der Rezension dieses Werkes sichtbar. Giorgio Vasaris, ein zeitgenössischer Biograph Michelangelos, schreibt:
„Er (Michelangelo) vollendete den fünf Ellen hohen Moses aus Marmor, eine Statue, der kein modernes Werk an Schönheit je gleichkommen wird, wie es gleichermaßen von den antiken gesagt werden kann. […] In seiner Schönheit besitzt das Gesicht in der Tat die Ausstrahlung eines wahren Fürsten, heilig und gewaltig, weshalb man ihn, während man ihn betrachtet, fast um einen Schleier bitten möchte, der sein Gesicht verhüllt, so strahlend und hell leuchtend wirkt es. Und so trefflich hat er die göttliche Ausstrahlung wiedergegeben, die Gott diesem allerheiligsten Antlitz verliehen hat, […] ja, er ist in allen seinen Teilen so vollendet, dass Moses sich heute mehr denn je einen Freund Gottes nennen darf, da jener seinen Körper durch Michelangelos Hände lange vor allen anderen für seine Auferstehung hat zusammenfügen und vorbereiten lassen.“
Die Euphorie über die kreative Fähigkeit des Menschen kann sich in die Anmaßung steigern, der Mensch habe Gott an Schöpferkraft eingeholt oder ihn gar übertroffen. Es ist das Bewusstsein für diese Gefahr, für diese Versuchung des Menschen sich in der Faszination seiner eigenen Fähigkeiten zu verlieren, die muslimische Künstler über Jahrhunderte hinweg in der Sitte vereinte, ihren Werken vor der Vollendung noch einen winzigen Makel, einen kleinen Fehler hinzuzufügen. Somit versicherten sie sich selbst ihrer Unvollkommenheit und Fehlbarkeit im Vergleich zu der schöpferischen Kraft Gottes.
Manchmal kommt es aber auch nur auf die innere Haltung an, mit der man sich ein und demselben Werk nähert. Den von Vasaris so euphorisch besprochenen Moses bewundert Jahrhunderte später auch ein anderer Verehrer der künstlerischen Fähigkeiten Michelangelos.
Es ist Sigmund Freud, der gefesselt von der Wirkung dieser Skulptur zu der Einsicht kommt:
„Michelangelo hat an das Grabdenkmal des Papstes einen anderen Moses hingesetzt, welcher dem historischen oder traditionellen Moses überlegen ist. Er hat das Motiv der zerbrochenen Gesetzestafeln umgearbeitet, er läßt sie nicht durch den Zorn Moses’ zerbrechen, sondern diesen Zorn durch die Drohung, daß sie zerbrechen könnten, beschwichtigen oder wenigstens auf dem Wege zur Handlung hemmen. Damit hat er etwas Neues, Übermenschliches in die Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraftstrotzende Muskulatur der Gestalt wird nur zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.“
Wie zum Beweis der in vielen Koranversen wiederholten Ermahnung, dass Gott die Menschen in unterschiedlichen Stämmen und Glaubensrichtungen erschaffen hat, damit wir voneinander lernen: Hier, in einer römischen Kirche, vor einer 500 Jahre alten Skulptur begegnet uns wieder das in der Offenbarung beschriebene ewige Ringen des Menschen mit seiner Leidenschaft, mit seinem Nafs zugunsten seiner Ergebenheit in Gott. Denn Gott ist am größten. (mk)