Seelen-Nahrung

Nehmen wir unsere Mitmenschen tatsächlich wahr? Die Menschen um uns herum, sind wir uns ihrer Existenz vollends bewusst? Morgens wenn wir beim Frühstücken unseren Kaffee schlürfen und unserem Ehepartner gegenübersitzen, sehen wir dann in ihren, in seinen Augen, wie es ihr oder ihm geht? Motiviert uns der Blickkontakt und das Wechseln ein paar netter Worte den Alltag mit Leichtigkeit zu bewältigen? Sind wir im Kopf schon bei der Arbeit, wenn unsere Kinder uns eine Frage stellen? Ach, sie stellen so viele Fragen. Sehen wir die Enttäuschung in ihren Gesichtern, wenn sie uns dabei ertappen, wie wir ihnen nicht antworten können, weil wir ihnen nicht zugehört haben?

Fällt es uns auf, dass die ältere Dame von nebenan seit längerem nicht mehr den Müll rausbringt, was sie sonst immer um die gleiche Uhrzeit tut. Bei der Arbeit, interessiert es uns wirklich, warum der Arbeitskollege immer wieder fehlt oder stempeln wir ihn als einen Hypochonder ab, der zu faul ist zum Arbeiten? Merken wir, dass die junge Sekretärin immer dünner wird und kaum etwas isst? Und was ist los mit dem besten Freund unseres Vaters, warum kommt er nicht mehr zum Freitagsgebet? Haben wir vielleicht überhört, dass er im Krankenhaus liegt, weil wir sooo viel arbeiten müssen und gar nicht wissen, wo uns der Kopf hängt? Beruhigen wir so unser Gewissen? Ist uns aufgefallen, dass unsere Mutter mittlerweile auf dem Stuhl sitzt, wenn sie das Gebet verrichtet?

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die uns so sehr im Griff hat, dass wir nur noch eine stark eingeschränkte Wahrnehmung von unserer menschlichen Umwelt haben. Unser Fokus gilt immer mehr nur noch den eigenen Interessen. Wir wollen unseren Alltag bewältigen, unseren Status bewahren und auf materieller Ebene möglichst viel erreichen. Lässt sich diese Haltung mit der Vorstellung der prophetischen Ummah vereinen? Wohl kaum.

Niemand erwartet von uns therapeutische Fähigkeiten. Niemand wird die Probleme um sich herum oder die Sorgen seiner Mitmenschen alleine bewältigen können. Aber allein die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit für das, was sich in unserer nahen oder fernen Umwelt abspielt, kann uns bereits mit unseren Mitmenschen verbinden.

Erinnern wir uns an den Propheten Muhammed (sav), der seinen Gefährten Ebu Huraira sah und gleich wusste, dass er Hunger hatte und das Bisschen mit ihm teilte, das ihm zur Verfügung stand. Und überhaupt, „ist man wahrhaftig gläubig, wenn man selber satt ist, während der Nachbar hungert“? Und ist in diesem Prophetenwort tatsächlich nur der Hunger gemeint, den wir durch Speisen stillen?
Sicher ist es ein Glück, dass in unserem nahen Umfeld oder gar direkt vor unseren Augen kaum Menschen hungern müssen, weil sie nichts zu essen haben. Dafür hungern aber unsere Seelen. Sie hungern nach Aufmerksamkeit, nach Zuwendung und Liebe. Auch das sind Lebens-Mittel. Seelen-Nahrung.

Dabei lässt der Prophet keinen Zweifel daran, welchen Stellenwert diese Aufmerksamkeit für die Aufrichtigkeit unseres Glaubens an Gott hat: „Ihr werdet nicht in das Paradies eintreten, ohne zu glauben. Und ihr werdet nicht glauben können, solange ihr euch nicht gegenseitig liebt.“

 

Gastbeitrag von Şengül Batman Kumaş.