“Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Mit diesen beiden Sätzen beginnt unser Grundgesetz. Was bedeutet „Die Würde des Menschen“? Die Rechtswissenschaft meidet es, den Begriff präzise zu definieren, weil damit die Gefahr bestünde, den Begriff der „Würde“ in unzulässiger Weise einzuschränken. Vielmehr definiert sie negativ, wann von einem Verstoß gegen die Würde des Menschen auszugehen ist. Ein solcher Verstoß liegt immer dann vor, wenn der Mensch nicht mehr als selbstbestimmtes, freies Subjekt handeln kann, sondern wenn der Staat oder ein anderer Mensch über ihn als Objekt verfügt, ihn quasi als Gegenstand, als Sache behandelt. Denn der Mensch als von Gott erschaffenes Wesen, darf niemals zu einem Gegenstand herabgewürdigt werden, über den andere willkürlich verfügen.
Dieser Gedanke der Unverfügbarkeit des Menschen und seiner Freiheit, als selbstbestimmtes Subjekt handeln zu können, begegnet uns im Grundgesetz als Verpflichtung des Staates gegenüber seinen Bürgern. Im Wort Gottes, das uns im Koran offenbart wurde, begegnet uns der gleiche Gedanke in noch stärkerer und umfassenderer Form, nämlich als direkte Ansprache und Verantwortung eines jeden Menschen. In der 90. Sure mit dem Titel „Beled“ beschreibt Gott, wie und mit welcher Verantwortung er den Menschen erschaffen hat. In den Versen 90, 8 ff. heißt es:
„Haben wir ihm nicht zwei Augen gemacht, eine Zunge und zwei Lippen, und ihm beide Wege gewiesen? Würde er doch den steilen Weg hinaufstürmen! Woher sollst du wissen, was der steile Weg ist? Es ist die Befreiung eines Sklaven oder, am Tag der Hungersnot, die Speisung einer verwandten Waise oder eines Bedürftigen, der im Staub liegt. Und dass man außerdem zu denen gehört, die glauben, einander die Geduld nahelegen und einander die Barmherzigkeit nahelegen. Das sind die von der rechten Seite. Die aber, die unsere Zeichen verleugnen, sind die von der unglückseligen Seite. Über ihnen liegt ein Feuer zugeschlagen.“
Der Mensch, der mit seinen Augen die Not und Unfreiheit anderer erkennt, darf nicht untätig bleiben. Er darf sich nicht nur darauf verlassen, dass der Staat jeden Einzelnen schützt und vor Unfreiheit bewahrt. Er muss sich selbst um seinen Nächsten kümmern. Er hat eine Zunge und Lippen, mit denen er auf die Missstände hinweisen kann. Aber auch das ist nicht genug. Der Mensch soll den steilen, den steinigen, den mühsamen Weg hinaufstürmen. Nicht bloß sich langsam auf den Weg machen. Nein, er soll ihn hinaufstürmen! Nur wie soll er erkennen, welcher Weg das ist?
Gott beschreibt das in der beeindruckenden Schönheit der Sprache des Koran mit der Formulierung „fekku rekabetin“. Diese Formulierung ist in der Zeit der Offenbarung als Aufforderung zur Befreiung eines Sklaven verstanden worden und wird in seiner wörtlichen Bedeutung auch heute noch so ausgelegt. Damit wird der Mensch ganz konkret dazu aufgefordert, den Zustand zu beenden, dass ein Mensch über den anderen wie eine Sache, wie ein Besitzgegenstand verfügt. Niemand soll unfrei leben, der Besitz eines anderen sein. Aber die Formulierung geht über dieses konkrete Bild hinaus. Gottes Wort ist prächtiger und vielschichtiger. „fekku rekabetin“ heißt auch, die „Ketten vom Hals entfernen“, „denjenigen befreien, dessen Freiheit in Ketten liegt“, den „Unfreien losbinden“.
Das heißt, Gott hat den Menschen zur individuellen Freiheit erschaffen. Er hat Adam so frei erschaffen, dass er sogar gegen das Gebot Gottes verstoßen kann. Ein so erschaffener Mensch darf niemals Gegenstand der Willkür eines anderen sein. Und es ist unsere Verantwortung, überall dort einzuschreiten, also den steilen Weg hinaufzustürmen, wo diese Freiheit, diese Würde des Menschen verletzt wird.
Und auch die existenzielle Not, der Hunger, die Hilflosigkeit des Menschen macht ihn unfrei und zum Objekt der willkürlichen Gnade eines anderen. Auch diesen Zustand müssen wir überwinden. Wir müssen uns immer dort für andere Menschen einsetzen, wo sie es für sich nicht mehr können. Wir müssen jeden Menschen in die Lage versetzen, frei über sich selbst bestimmen, für sich selbst sorgen zu können.
Wenn wir vor dieser Verantwortung unsere Augen und Lippen verschließen und nicht gemäß dieser Verantwortung handeln, wird – so künden es diese Verse – über uns ein Feuer zugeschlagen. Im Koran heißt es, das Feuer werde „mu’sadetun“ sein, also fest verschlossen, eng umschlossen, von allen Seiten eingeschlossen. Das heißt, wenn wir der Not und der Unfreiheit unseres Nächsten gegenüber gleichgültig bleiben und sie nicht zu lindern, nicht zu beheben suchen, so werden auch wir unfrei sein.