Unsere Gemeinschaften werden nicht müde, immerfort über die Äußerlichkeiten muslimischen Daseins zu sinnieren und zu streiten. Wie man als Mann oder Frau auszusehen hat, wie der Bart des muslimischen Mannes aussehen sollte, ob und wie die muslimische Frau ihren Kopf zu bedecken hat.
Über solche Fragen der äußeren Erscheinung muslimischen Lebens diskutieren wir Muslime mit einer Leidenschaft, die viele von uns an die Grenzen der Bereitschaft führt, andere Muslime aufgrund ihrer abweichenden Meinung zu Ungläubigen zu erklären. Manchen führt sie auch über diese Grenzen hinaus.
Vor Kurzem habe ich eine Online-Diskussion erlebt, in der ein Teilnehmer seine vermeintliche sittlich-moralische Überlegenheit mit der Frage zum Ausdruck brachte, seit wann man denn „gemischt live gehen“ darf?
Dürfen muslimische Männer und Frauen während online Gesprächen gleichzeitig auf einem Bildschirm vereint live miteinander diskutieren? Müssen Frauen ihre „Videokachel“ vielleicht verpixeln, damit männliche Teilnehmende diese nicht zu intensiv betrachten? Braucht es also eine Art Online-Hijab? Darf man bei „Breakout-Sessions“ eigentlich einen virtuellen „Raum“ betreten, in dem Männer und Frauen sich gemischt aufhalten?
Ich bin mir sicher, dass sich auch für diese Fragen bereitwillig Diskutanten finden, die sich im Fall abweichender Auffassungen mit heiligem Ernst und Eifer wechselseitig des Glaubensabfalls bezichtigen.
Als Muslim hätte man sich angesichts der Erfahrungen einer nun knapp zwei Jahre andauernden Pandemie mit unzähligen Toten und Erkrankten gewünscht, die innermuslimischen Debatten hätten eine andere Substanz und Tiefe entwickelt. Bietet die Struktur unserer muslimischen Glaubenswelt nicht Anlass zu einer neuen und angesichts der aktuellen Herausforderungen auch für die Gesamtgesellschaft fruchtbaren Debatte darüber, in welchem Verhältnis individuelle Freiheit und das Allgemeinwohl zueinander stehen?
Unsere muslimische Glaubenswelt ist in nahezu jeder Facette ihrer praktischen Umsetzung, ihrer rituellen Manifestation und auch in den dieser Praxis zu Grunde liegenden ideellen Voraussetzungen durchdrungen von der Dialektik des Individuellen in seinem Verhältnis zum Generellen. In jedem Moment unserer muslimischen Existenz sind wir Teil eines praktischen Ausgleichs zwischen uns als Individuum und der Gemeinschaft, in der wir leben.
Das Glaubensbekenntnis drückt eine individuelle Überzeugung aus – aber gleichzeitig auch die Verpflichtung zur Gemeinschaft. Das Ritualgebet verrichten wir individuell – aber auch als wöchentliches Gemeinschaftsgebet. Dort sogar in Teilen als Ausdruck unserer individuellen Rituale, wenn alle Betenden für sich ganz eigene, kurze Koranverse rezitieren, sich aber letztlich doch in einer gemeinsam rezitierten Fatiha wiederfinden.
Das Fasten dient unserer individuellen körperlichen und geistigen Läuterung, dem besinnlichen Rückzug aus dem Alltag in das höchsteigene Innere – führt uns aber allabendlich auch wieder in die Gemeinschaft einer Iftartafel. Die Zakat dient uns dazu, unser erworbenes Vermögen vom etwaigen Recht anderer zu reinigen und damit unser individuelles Gewissen zu befrieden – aber auch dazu, all jenen Vermögenswerte zuzuwenden, die weitaus weniger oder gar nicht am wirtschaftlichen Reichtum der Gemeinschaft teilhaben. Im englischsprachigen Raum heißt es, „You don’t make a million – you take a million.“ Die Zakat macht uns bewusst, dass allem Materiellen, was wir als „unseres“ anhäufen, etwas innewohnt, das wir aus der Gemeinschaft entnommen und damit letztlich auch anderen weggenommen haben.
Die Hadsch ist eine sehr individuelle Reise der inneren Einkehr und Selbstbefragung, der höchstindividuellen Entblößung der eigenen Seele, eine von dem Wunsch nach Vergebung geprägten Hinwendung zu Gott – aber gleichzeitig auch die beispiellose Erfahrung von weltumspannender Gemeinschaft. Im Moment der Umkreisung der Kaaba ist man spirituell ganz für sich allein, aber gleichzeitig umgeben von allen anderen.
Welche Botschaft vermittelt uns ein solcher Glaube im Hier und Jetzt?
Meinem Verständnis nach gibt es in einer solchen Glaubenswelt des permanenten Ausgleichs zwischen individuellen Bedürfnissen und dem Wohl der Allgemeinheit keinen Platz für absolute Positionen. Die Natur unseres Glaubens ist der Ausgleich, die Praxis der Abwägung, der Weg der Mitte.
So, wie wir diese Infektionskrankheit seit knapp zwei Jahren erleben, kann nur eine nahezu die gesamte Bevölkerung umfassende Impfung weiteres infektionsbedingtes Sterben und Leiden verhindern. Unsere globale Verantwortung muss uns dazu anhalten, eine Politik zu vertreten, die den Impfstoff weltweit allen Menschen zugänglich macht. Unsere lokale Verantwortung muss uns dazu anhalten, mittels einer gesetzlichen Impflicht einen möglichst die gesamte Bevölkerung abdeckenden Impfschutz sicherzustellen.
Dort, wo ein ins Absolute gesteigertes, unnachgiebiges individuelles Freiheitsverständnis sich auf Kosten der Gesundheit und des Lebens unzähliger Mitbürger durchsetzen will, muss die Freiheit des Einzelnen zum Wohle der Gesundheit und des Lebens der Allgemeinheit eingeschränkt werden. Die Nachteile für den Einzelnen, die mit einer solchen Impfpflicht verbunden wären, überragen in keiner Weise und schon gar nicht deutlich jene Nachteile, die wir im Falle einer weiteren ungehinderten Verbreitung und Mutation des Virus zu befürchten haben.
Die Natur unseres muslimischen Glaubens findet sich auch in den weltlichen Bedingungen unseres grundgesetzlich verfassten Zusammenlebens wieder. In Art. 2 Absatz 2 unseres Grundgesetzes heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Daraus folgt aber nicht nur die Freiheit und das Grundrecht des Individuums gegenüber dem Staat, vor staatlichen Eingriffen in seine körperliche Unversehrtheit geschützt zu sein – sondern auch die Verpflichtung des Staates, die Gesundheit und das Leben seiner Bürger zu schützen.
Ist diese ideelle Übereinstimmung unserer Gesellschafts- und Verfassungsordnung mit den wesentlichen Prinzipien unseres muslimischen Glaubens nicht wert, von Muslimen lautstark thematisiert zu werden? Müsste, wenn die obigen Deutungen und Schlussfolgerungen nicht völlig abwegig sind, nicht jede Muslimin und jeder Muslim in Deutschland geimpft sein und sich für die Impfung einsetzen? Das sind Fragen, über die wir Muslime – öffentlich sichtbar und hörbar – diskutieren müssen.