Weihnachtszeit. Jedes Jahr wiederholen sich die Rituale anlässlich dieses Festes. Unter Muslimen schwelen innere Spannungen zwischen emphatischer Freude, der Suche nach den islamischen Quellen, welche die Geburt Jesu schildern, aber auch einer verstörenden Ablehnung, christlichen Mitbürgern auch nur frohe Weihnachten zu wünschen.
Letzteres ist häufig der Ausdruck einer eigenen Unsicherheit im Glauben. Wenn sich Frömmigkeit ihrer Festigkeit dadurch vergewissern muss, andere Glaubensüberzeugungen fundamental abzulehnen und ihre Präsenz nicht als Wert einer vielfältigen Gesellschaft zu schätzen, führt das zu einer Einfältigkeit im eigenen Glauben und erstickt unsere Möglichkeiten, einander achtsam zu begegnen – und Freude an der Freude des anderen nachzuempfinden.
Ja, die Geburt Jesu hat für Muslime eine andere theologische Bedeutung als für Christen. Die Kunst des gedeihlichen Zusammenlebens liegt aber nicht darin, diese Unterschiede im gesellschaftlichen Alltag und insbesondere nicht zum Anlass der Weihnachtsfeier zu betonen. Im Gegenteil kann Wertschätzung und wechselseitige Achtung in einer heterogenen Gesellschaft nur dann entstehen und wachsen, wenn wir das Bedeutsame für den Anderen aus dessen Sicht betrachten und das entdecken, was für ihn, aus seiner inneren Glaubensüberzeugung heraus wertvoll ist.
Es geht dabei nicht um eine synkretistische Vermengung und Relativierung von Glaubensüberzeugungen. Im Gegenteil geht es vielmehr darum, die Glaubensunterschiede zu entdecken, sie aber nicht als Hindernis zu erleben, sondern als Anregung, die Glaubenswelt des anderen mit dessen Augen zu betrachten und ihre innere Schönheit nachzuvollziehen.
Es geht also um eine Form der Aneignung nicht der abweichenden religiösen Überzeugung, aber ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Prägekraft und gestaltende Wirkung auf die Menschen, mit denen wir zusammenleben. Die vom Weihnachtsfest geprägten Elemente im gesellschaftlichen Leben, in der Kunst und Kultur, in den kulturellen Ritualen, die uns auch als Muslime umgeben, bilden einen immensen Reichtum, den wir durch unsere positive Hinwendung zum Weihnachtsfest entdecken können – und die auch unser Leben auf mannigfaltige Weise bereichern, auch wenn wir um die Unterschiede unserer Glaubenswelten wissen.
Diese gesellschaftlich-kulturelle Aneignung kann und darf aber nicht auf der Ebene des Formelhaften bleiben. Sie darf sich nicht in der Nachahmung feierlicher Rituale oder festlicher Brauchtümer erschöpfen. Sie muss sich auch in der gedanklichen Auseinandersetzung mit der Frage ausdrücken und ausdrücken dürfen, welche Bedeutung das Weihnachtsfest für uns als Gesellschaft hat, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und welche Botschaft uns das Weihnachtsfest im Hinblick auf diese Fragen vermittelt.
„Ihr Kinderlein kommet!“ wird in diesen Tagen gesungen. Gleichzeitig lassen wir als Gesellschaft Kinderlein auf griechischen Inseln in einem Ausmaß an Armut und Elend leben und sterben, in welchem selbst die Aussicht auf einen Stall als Herberge und weiches, warmes Stroh als Schlaflager wie eine utopische Hoffnung wirkt.
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!“ heißt es. Und dennoch ziehen wir Mauern aus Ignoranz und Gleichgültigkeit um unsere Festung Europa.
„Es kommt ein Schiff geladen!“ – aber wir drängen es ab und lassen Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil wir ihnen nicht einmal einen Klappstuhl an unserem Tisch gewähren wollen.
Wenn wir an Weihnachten und an die Geburt Jesu denken, denken wir dann auch an die vielen Maryams und Isas, die allein dieses Jahr wieder gestorben sind, weil wir ihnen nicht helfen, obwohl sie vor unserer Tür stehen?
Wir verschließen unsere Augen und Herzen angesichts dieser Wirklichkeit. Und statt eines Herzens „nur voll Demut allein“ überbieten wir uns im twitternden Wettrennen um Gehässigkeiten, Zynismus und Angst vor dem „Fremden“ – und fühlen uns bestätigt durch die Zahl unserer Follower und Likes.
Jesus hatte zu Lebzeiten nur 12 Follower. Und seine Botschaft wurde nicht von vielen geliked. Aber sie hatte eine Wahrhaftigkeit inne, die wir heute stärker hervorheben und in unserem täglichen Handeln wieder beleben müssen. Der Wunsch nach einem frohen Fest muss die wenigen Feiertage überdauern und zu einem Versprechen werden, das auch den Rest des Jahres bis zum nächsten Weihnachtsfest Bestand hat. Daran können wir alle in unserer Gesellschaft mitwirken – egal ob und woran wir glauben.
In diesem Sinne: Allen ein frohes Weihnachtsfest!