Paris. Nizza. Wien. Wieder und wieder erleben wir die Gewalt von Tätern, die für sich beanspruchen, im Einklang mit unserem Glauben zu handeln.
Sie wollen im Namen unseres Glaubens Kränkungen vergelten. Sich rächen. Oder Strafen vollstrecken.
Die Täter fühlen sich als Opfer. Sie erheben sich zum Ankläger. Und sie richten über andere.
Das Gefühl der Nachsicht ist ihnen fremd. Die Bedeutung des Erbarmens ist ihnen unbekannt. Die Möglichkeit der Vergebung ist ihnen ferner als die Möglichkeit, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen.
Sie wollen im Namen des Islam handeln. Jedes Gebet, jede Mahlzeit, jede weltliche Handlung beginnen wir mit den Worten: „Bismi ’llahi ’r-rahmani ’r-rahim“ – „Mit dem Namen des Gnädigen, des Allbarmherzigen.“
Ob die Täter auch diese Worte gesprochen haben, als sie zu morden begannen?
Wir umkreisen die Kaaba in Mekka mit den Worten: „Rabbena atina fi’d-dunya haseneten ve fi’lahirati haseneten ve gina azabe’n-nar“ – „ Mein Herr! Gib uns im Diesseits das Schöne und Gute und gibt uns auch im Jenseits das Gute und Schöne und bewahre uns vor der Pein des Feuers.“
Die Täter haben jede Aussicht auf das Schöne und Gute aufgegeben und brennen darauf, ein alles verzehrendes Feuer zu sein. Oder vielleicht noch schlimmer: Das Feuer gilt ihnen als das Schöne und Gute.
Wir erleben die Täter fern von allem, was uns unser Glaube bedeutet. Wir werden wütend, wenn man von uns verlangt, uns von diesen Taten und den Tätern zu distanzieren. Wir haben doch gar keine Nähe zu ihnen!
Aber die Täter erzeugen diese Nähe. Sie stellen sich sinnbildlich neben uns und sagen: „Ich handele auch für Dich!“ – „Ich verteidige auch Deinen Glauben!“
Ja, Terror hat keine Religion. Aber Terroristen haben eine und sie berufen sich darauf.
Es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen uns Muslimen und den Tätern. Davon sind wir überzeugt. Deshalb verfluchen und beschimpfen wir sie. Wir sprechen ihnen ab, Muslime zu sein. Wir sprechen ihnen ab, Menschen zu sein. Wir machen deutlich: „Mit euch haben wir nichts gemeinsam!“
Wir merken dabei nicht, dass die Täter ähnlich denken und glauben: Sie morden, weil ihre Opfer keine Muslime sind oder weil sie – vermeintlich – Muslimen Schaden zufügen. Sie morden, weil sie in ihren Opfern keine Menschen erblicken, deren Leben gleichwertig ist.
Es gibt Muslime unter uns, die auf der Straße gegen die Respektlosigkeit gegenüber unserem Propheten (S.A.S.) demonstrieren. Dabei sind die Opfer von Wien noch nichtmal begraben. Ist ein solches Verhalten das Gute und Schöne, um das wir Allah im Schatten der Kaaba bitten?
Es gibt Muslime unter uns, die wollen nicht eine einzige Minute schweigen, nicht einen Augenblick Rücksicht auf das Gedenken an einen ermordeten Lehrer nehmen. Es gibt Muslime unter uns, die denken, er habe den Tod verdient. Ein Lehrer, der aus Rücksicht auf die Gefühle seiner muslimischen Schüler es ihnen freigestellt hat, sich die Karikaturen nicht anzusehen.
Wenn es Muslime unter uns gibt, denen jedwede Rücksicht gleichgültig geworden ist, die keine Nachsicht mehr üben wollen, die in ihrem Denken und Fühlen und Reden erbarmungslos geworden sind, können wir dann noch sagen, dass wir nichts, rein gar nichts mit den Tätern gemeinsam haben?
Die Gewalt beginnt nicht mit dem Messer oder dem Schnellfeuergewehr in der Hand – sie endet dort. Die Gewalt beginnt viel früher. Sie beginnt mit einer bestimmten Art zu denken und zu glauben. Sie beginnt damit, dass wir anfangen, zwischen dem Wert, den wir uns beimessen und dem Wert, den wir anderen beimessen, zu unterscheiden. Die Gewalt beginnt damit, dass wir anfangen, über andere mit einem „Es sind nur…“ zu denken.
Für Frauen reichen auch Nebenräume in der Moschee. Für Menschen, die anders leben oder anders lieben, als wir das für erlaubt halten, dürfen wir Ekel und Verachtung empfinden. Es ist schön, wenn Nichtmuslime uns zum Ramadan gratulieren, aber der Weihnachtsgruß eines Muslim ist verwerflich. Niemand darf unsere religiösen Gefühle verletzen. Aber „Jude!“ gilt manchen Muslimen unter uns als Schimpfwort.
Ja, kein anständiger Muslim akzeptiert es, dass andere Menschen umgebracht werden. Aber warum empfinden wir es nicht als unanständig, wenn wir andere Menschen abwerten? Oder es dulden, dass sie abgewertet werden?
Die Gewalt beginnt nicht mit einem Koranvers. Die Gewalt beginnt mit unserem Schweigen zu der Abwertung anderer Menschen.
Es ist nicht die Absicht, zu töten, die uns mit den Tätern verbindet. Es ist nicht der Islam, der uns mit den Tätern verbindet.
Was uns mit den Tätern verbindet, ist die Bereitschaft, andere Menschen abzuwerten oder ihrer Abwertung nicht zu widersprechen. Egal, wie winzig diese Gemeinsamkeit auch sein mag. Solange wir sie dulden, tragen wir als Muslime eine Verantwortung. Nicht die Verantwortung für einen Mord. Aber die Verantwortung, uns zu ändern.
Nicht, weil andere das von uns erwarten. Sondern, weil Allah das von uns erwartet: „Allah ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist.“ (Sure 13, Vers 11)