Gewohnheiten bestimmen unser Leben. Sie gestalten unseren Alltag, prägen unsere Entscheidungen und verfestigen unsere Handlungsmuster. Über Gewohnheiten denken wir selten intensiv nach. Mit vielen wachsen wir auf und erleben sie als ganz selbstverständlich.
Unsere Gewohnheiten sind so mächtig, dass wir Verhaltensweisen einüben und nie wieder anzweifeln, selbst wenn sie unseren inneren ethischen Überzeugungen widersprechen – eben weil wir uns an sie gewöhnt haben, weil sie uns normal erscheinen. Wir müssen diese Gewohnheiten in ihrer alltäglichen Praxis nicht vor uns oder anderen rechtfertigen. Sie gelten nicht als verwerflich. Niemand hält sie uns als Übel oder grausames Verhalten vor.
Wir sind Meister der Verdrängung und Beschönigung, wenn es darum geht, unsere Gewohnheiten aufrechtzuerhalten und einer Konfrontation mit dem tatsächlichen Gehalt unserer Entscheidungen aus dem Weg zu gehen.
Für unsere Gewohnheiten und Annehmlichkeiten, für unsere alltägliche Bequemlichkeit sind wir sogar bereit, anderen Geschöpfen Gewalt, Qualen und fortwährende, ununterbrochene Schmerzen anzutun und millionenfachen Tod zu verursachen.
Wir entscheiden täglich darüber, welches Leben wir achtenswert finden und welches Leben und Sterben für uns an der Supermarktkasse nicht billig genug sein kann.
Was ermächtigt uns, was erhebt uns eigentlich dazu, zu entscheiden, dass Gottes empfindsame, leidensfähige Geschöpfe Qualen zu erdulden und zu sterben haben, weil wir Geschmack am Verzehr ihres Fleisches oder ihrer Milch gefunden haben?
Aus religiöser Sicht, ist es uns nicht verboten, Tiere zu töten und zu verzehren. Unter bestimmten Bedingungen geschlachtete Tiere dürfen wir verzehren. Ihr Fleisch ist uns nicht haram, sondern halal.
Aber heutzutage scheinen wir uns nur noch zu fragen, ob das Fleisch eines Tieres grundsätzlich unter diese Kategorien des Halal oder Haram, des Erlaubten oder Verbotenen fällt. Über die weiteren Umstände des Lebens und Sterbens von Tieren zur Befriedigung unserer Gewohnheiten machen wir uns keine Gedanken.
Zu Zeiten unseres Propheten (S.A.S.) wurde das Fleisch von Tieren verzehrt, die man selbst gehalten hat oder die vom benachbarten Händler angeboten wurden. Der Umgang mit diesen Tieren und die Umstände ihrer Schlachtung waren im Alltag präsent. Zu den Bedingungen einer damaligen Schlachtung gehörte es, dem Tier bis zur Schlachtung kein Leid zuzufügen und ihm keine Schmerzen zu bereiten, die das für die Tötung zwingend notwendige Maß überschritten.
Die Tötung und der Verzehr eines Tieres ist in unserer Offenbarung nicht als Regelfall, nicht als alltägliche Gewohnheit beschrieben, sondern wird im Zusammenhang mit den rituellen Kulthandlungen während der Pilgerfahrt (vgl. Sure 22, Verse 34 bis 37) erwähnt. Die Tötung eines Tieres zum Verzehr, soll in Demut vor Gott und begleitet von einem „inneren Erzittern“ geschehen. Das Fleisch soll nicht nur dem Schlachtenden, sondern auch den Armen und Bedürftigen zu Gute kommen.
Wenn wir uns an den abrahamitischen Ursprung dieses Ritus erinnern, erkennen wir, dass die Opferung eines Tieres nicht die Tötung eines minderwertigen Wesens, eines uns unterlegenen und unserer Willkür ausgelieferten Verfügungsobjekts ist.
Die Schlachtung eines Opfertieres erfüllt das Versprechen Abrahams, Gott seinen Sohn zu opfern. Der Tod des Opfertieres entbindet Abraham von seinem Versprechen. Damit erfüllt das Leben und Sterben des Tieres Abrahams Schuld, Gott das Leben seines Sohnes zu opfern. Sind das Leben eines Tieres und das Leben des Sohnes Abrahams in dieser göttlichen Botschaft also nicht gleichwertig?
Wenn aber derart der Tod eines Tieres die Schuld eines menschlichen Lebens zu erfüllen und abzugelten vermag, wie können wir dann noch davon überzeugt sein, dass das von Gott erschaffene Leben eines Tieres weniger wert, weniger lebens- und schützenswert sei als das unsere?
Sind wir nicht vielmehr dazu berufen, dem Leben des uns ausgelieferten Geschöpfs die gleiche Gnade und Rücksicht zu erweisen, wie sie Gott dem Sohn Abrahams erweist?
Im Koran heißt es in der Sure Al-An’aam, also „Das Vieh“, in Vers 38: „Es gibt kein Tier auf der Erde und keinen Vogel, der mit seinen Flügeln fliegt, die nicht Gemeinschaften wären gleich euch. Wir haben im Buch nichts vernachlässigt. Hierauf werden sie zu ihrem Herrn versammelt.“
In dieser Sure geht es um die Zeichen Gottes und die Menschen, welche diese Zeichen verleugnen. In ihr wird wiederholt erwähnt, dass nur jenes Fleisch zum Verzehr erlaubt ist, „worüber Allahs Name ausgesprochen worden ist.“
Ausdrücklich heißt es in Vers 121 der gleichen Sure: „Und esst nicht von dem, worüber der Name Allahs nicht ausgesprochen worden ist.“
Heute begnügen wir uns damit, dass der Tötung eines Tieres die Rezitation einer religiösen Formel vorausgeht oder gar damit, dass das maschinelle Töten durch Vorrichtungen geschieht, die nach der Rezitation einer religiösen Formel in Gang gesetzt werden.
Ist das wirklich ein Akt, der uns innerlich vor Demut erzittern lässt, so dass wir Allahs Namen aussprechen, wenn wir einem Tier das Leben nehmen?
Ist es nicht vielmehr so, dass nicht der Name Allahs über dem Akt des Schlachtens schwebt, sondern die Kalkulation des Profits, der durch das Töten erzielt wird?
Der Umfang und die Bedingungen der Haltung und Tötung von Tieren in der Zeit der Offenbarung sind mit jenen unserer Gegenwart nicht zu vergleichen. Heute haben wir es mit einer erbarmungslosen Massentierhaltung und -tiertötung zu tun, die in jedem Detail auf die Maximierung des Gewinns ausgerichtet sind.
Fleisch ist nicht die Folge einer von Demut vor Gott begleiteten Ausnahmehandlung. Fleisch ist ein Konsumgut, eine Ware, die mit möglichst geringen Kosten möglichst hohen Profit abwerfen soll. Die Bedingungen des Lebens, Leidens und Sterbens von Tieren spielen dabei keine Rolle.
Wir fischen die Meere leer und töten dabei auch massenhaft Tiere als Beifang, die aussortiert und verstümmelt oder tot ins Meer zurückgeworfen werden.
Wir zerfetzten millionenfach männliche Küken sofort nach ihrem Schlüpfen in Industrieschreddern, weil sie keine Eier legen und ihre Aufzucht für die Fleischproduktion nicht gewinnbringend genug ist.
Wir pumpen Hühner mit Nahrung und Hormonen voll, damit sie unnatürlich schnell wachsen und während eines Bruchteils ihrer normalen Lebenserwartung schlachtreife Fleischmassen ansetzen, unter denen ihre Beine brechen oder ihre Organe versagen.
Wir halten Schweine in so engen Stallungen, dass Muttertiere ihre Ferkel zermalmen. Wir ziehen den Jungtieren ihre Eckzähne, schneiden ihre Schwänze ab und kastrieren sie ohne jegliche Betäubung.
Wir rammen Kühen das Sperma von Zuchtbullen in die Gebärmutter, damit sie regelmäßig trächtig werden und nicht aufhören, Muttermilch zu produzieren. Ihre Kälber entreißen wir den Muttertieren, weil wir jeden Tropfen der Muttermilch für uns beanspruchen. Die männlichen Kälber lassen wir sterben und die weiblichen Kälber werden schnellstmöglich aufgezogen, damit sie das Schicksal ihrer Mütter erleiden.
Häufig genug versagen die industriellen Betäubungsversuche, so dass Tiere bei vollem Bewusstsein aufgeschlitzt und zum Ausbluten an den Hinterläufen aufgehängt werden.
Diese Schilderungen klingen vielleicht drastisch. Sie geben das reale Grauen in unseren Zuchtbetrieben und Schlachthäusern jedoch nur unvollständig wieder. Wir haben die Bedingungen der Haltung und Tötung von Tieren vollständig aus unserem Alltag verdrängt, damit sich unser Gewissen nicht regt.
Wir verschließen auch die Augen davor, dass wir große Mengen der weltweit angebauten pflanzlichen Lebensmittel als Tierfutter verwenden, damit wir Fleisch verzehren können, während Menschen verhungern, weil ihnen eben jene pflanzlichen Nahrungsmittel fehlen.
Mit welcher Rechtfertigung halten wir dieses System der Ausbeutung von Tieren und Menschen eigentlich aufrecht? Weil es uns so gut schmeckt. Wir haben Geschmack am Tod gefunden.
Können wir uns in eine moralische Überlegenheit retten und für uns reklamieren, dass unser Leben wichtiger und wertvoller ist, als dass unserer tierischen Mitgeschöpfe? Das Verschwinden von Insekten oder auch nur von Ameisen oder Bienen hätte katastrophale Folgen für das Gleichgewicht des Lebens auf unserem Planeten. Wie erginge es unserer Erde und allen Lebewesen auf ihr, wenn es uns und damit unser gegenwärtiges Verhalten nicht gäbe?
Stehen wir als von Gott erschaffene Wesen und beseelt von seinem Schöpferatem aufgrund unserer ethischen und moralischen Eigenschaften und Fähigkeiten über den Tieren? „Wir haben den Rest der Schöpfung, die Tiere, versklavt. Unsere entfernten Verwandten mit Fell und Federn behandeln wir so übel, dass sie ohne jeden Zweifel, wenn sie eine Religion ausarbeiten könnten, den Teufel in menschlicher Gestalt darstellen würden.“ (William Ralph Inge).
Auch darüber müssen wir dereinst Rechenschaft ablegen.