Wenn wir im Alltag danach gefragt werden, was der Islam ist, antworten viele von uns mit der Aufzählung der fünf Säulen des Islam – das Glaubensbekenntnis, das Ritualgebet, das Fasten, die Pflichtabgabe und die Pilgerfahrt.
Wir neigen häufig zu einer solchen Aussage, weil diese Elemente der Glaubenspraxis uns vertraut und durch häufige Wiederholungen eingeübt sind. Wir machen uns dabei aber selten bewusst, dass diese Aufzählung nur wiedergibt, in welcher Art und Weise wir unseren Glauben in ritualisierter Form leben. Es sind Elemente des „Wie“ unserer Glaubenspraxis. Sie geben aber kaum und nur mittelbar Auskunft über das „Was“ unserer Glaubens, also über die Grundsätze und Prinzipien des Islam.
Manchmal neigen wir auch dazu, unsere Antwort abstrakter zu formulieren. Dann sagen wir häufig, dass Islam Frieden bedeutet. Diese Aussage ist nicht falsch. Aber sie beschreibt eher einen Zustand, den es zu erreichen gilt, als darüber zu berichten, wie dieser Zustand erreicht werden soll. Und häufig führt diese Aussage zu Skepsis, wenn sie zum Abgleich ihrer Glaubwürdigkeit neben die vielen Beispiele gelegt wird, bei denen Muslime sich ausdrücklich auf den Islam berufen, um ihr gewaltsames Handeln zu rechtfertigen.
Wir müssen uns also auch im Alltag viel häufiger damit auseinandersetzen, was die Grundsätze unseres Glaubens sind. Wir müssen darüber reflektieren und es ausformulieren können, woran wir Glauben, was den Kern unseres Glaubens ausmacht, welche Ausprägung das Wesen unseres Glaubens charakterisiert.
Jeder Muslim wird bei der Reflexion über diese Frage vielleicht zu unterschiedlichen Antworten kommen. An dieser Stelle soll der Versuch unternommen sein, ein mögliches Ergebnis dieser gedanklichen Anstrengung in Worte zu kleiden.
Der Grundgedanke dieser Glaubensreflexion lehnt sich an die Frage an, was der Zweck unserer Existenz ist. Bei dieser Frage sind wir jedoch zwingend inkompetent, nicht legitimiert, eine Präzision vorzunehmen. Denn wenn wir unseren Glauben ernst nehmen, sind wir Geschöpfe, nicht Schöpfer. Den Zweck einer Schöpfung, kann indes nicht das Geschöpf definieren. Diese Kompetenz ist dem Schöpfer selbst vorbehalten.
Unsere Offenbarung gibt uns Auskunft darüber, was unser Zweck als Ergebnis einer göttlichen Schöpfung ist. Wir sind erschaffen, um Allah zu dienen. So heißt es in Sure 51, Vers 56: „Ich erschuf die Dschinn und die Menschen nur, damit sie Mir dienen.“ (vgl. Auch Sure 21, Vers 25)
Im täglichen Ritualgebet bekräftigen wir in stetiger Wiederholung diesen Zweck unserer Existenz. Wir rezitieren in jedem Gebet die Fatiha und bekennen: „Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe.“ (Sure 1, Vers 5)
Wie aber soll nun unsere Dienerschaft konkret aussehen? Wie können wir unserem Zweck gerecht werden, Gott allein zu dienen?
Auf diese Frage antworten wir im Grunde selbst – durch unsere tägliche wiederholte Rezitation der Sure Fatiha im Gebet.
Wir beten:
„Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.
Alles Lob gehört Allah, dem Herrn der Welten,
Dem Allerbarmer, dem Barmherzigen,
Dem Herrscher am Tag des Gerichts.
Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe.
Leite uns den geraden Weg,
Den Weg derjenigen, denen Du Gunst erwiesen hast, nicht derjenigen, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht der Irregehenden!“
„Dem Allerbarmer, dem Barmherzigen“: Das in der Offenbarung am häufigsten genannte Attribut Allahs, seine Allbarmehrzigkeit, seine Gnade, sind das Motiv unserer Dienerschaft. Rahma, die Gnade Allahs, ist unsere Richtschnur. Dort, wo Gnade ist und Vergebung, finden wir den Islam. Wo Grausamkeit und Gewalt verübt werden, kann kein Anspruch erhoben werden, im Namen des Islam zu handeln.
Nichts anderes liegt dem Zweck der Erschaffung und Entsendung unseres Propheten (S.A.S.) zu Grunde: „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt.“ (Sure 21, Vers 107)
Nichts anderem kann und darf unsere Dienerschaft nacheifern.
„Dem Herrscher am Tag des Gerichts“: Unsere Dienerschaft muss dem Grundsatz der Gerechtigkeit folgen. Al adl, die Gerechtigkeit, ist das Grundprinzip unseres weltlichen Handelns. Nach dieser Rechtschaffenheit, nach diesem Befolgen der Gerechtigkeit werden wir am Tag des Gerichts befragt werden. Wo wir gerecht handeln und urteilen, leben wir den Islam. Wo Ungerechtigkeit und Unterdrückung herrschen, verleugnen wir den Islam.
Zu dieser Gerechtigkeit anderen gegenüber sind wir verpflichtet, selbst wenn sie uns selbst oder unseren Nächsten zum Schaden gereicht oder wo uns Hass und Feindschaft zum Unrecht verleiten. (vgl. Sure 4, Vers 135 oder Sure 5, Vers 8).
„Leite uns den geraden Weg“: Der gerade Weg ist der Weg der Mitte, des Ausgleichs, der Rücksichtnahme und des Wohlergehens für jedermann. Das Handeln der Muslime muss dem Prinzip des Guten und Förderlichen folgen. Sein Ziel muss das Gemeinwohl sein. Maslaha, diesem Prinzip des Wohlergehens und des Ausgleichs aller Interessen des Individuums und seiner Gemeinschaft – gleich ob es sich dabei um Muslime handelt oder nicht – muss eine Handlung folgen, die sich auf den Islam beziehen will.
„Den Weg derjenigen, denen Du Gunst erwiesen hast, …, und nicht der Irregehenden“: Der Islam fordert uns zum Erwerb und zur Verbreitung von Wissen, von Weisheit auf. Das Streben nach Einsicht und Verständnis für die Schöpfung, die Suche nach ihren Wirkungsweisen und Gesetzmäßigkeiten sind der Antrieb für unsere Dienerschaft. Wo Hikma, also Wissen ist und gemehrt wird, blüht der Islam. Wo der Mensch aus Bequemlichkeit oder Eigennutz den Irrtum und die Unkenntnis fördert, weicht er vom Weg des Islam ab.
Woran glauben wir Muslime also, was ist der Zweck unseres Glaubens? Wir glauben und handeln, um Allah zu dienen.
Wir dienen ihm, indem wir seiner Gnade folgen – und Grausamkeit ablehnen. Indem wir die Gerechtigkeit leben – und uns dem Unrecht und der Unterdrückung entgegenstellen. Indem wir das Gemeinwohl fördern – und Schaden von unseren Mitmenschen und der Schöpfung abwenden. Indem wir unser Wissen mehren – und den Irrtum aufklären.
Das kann die Antwort auf die Frage sein, woran wir Muslime eigentlich glauben. Und ihr muss stets die Frage – an uns selbst gerichtet – folgen, ob wir jeden Tag auch nach diesem Glauben leben?