Ein Gastbeitrag von Fatih Seyfi
Grenzschließungen, Reiseeinschränkungen, Schließungen von kleinen wie großen Arbeitsstätten, Einschränkungen des persönlichen Treffens im Familien- und Freundeskreis, Quarantäne-Auflagen – es ist jetzt schon gewiss, dass die weltweite Ausbreitung der COVID-19-Pandemie eine einschneidende Zäsur für die Welt darstellen wird. Diese bisweilen für die Menschheit schwierige Phase lässt bei vielen Menschen gleichermaßen Verständnis wie auch Verzweiflung aufkommen. Nicht zuletzt in der postindustriellen, westlichen Welt hat dieser Einschnitt lange als sicher geglaubte Idealbilder ins Wanken gebracht: Vorstellungen uneingeschränkten Konsums, ungebremsten Wirtschaftswachstums und unerschöpflicher Reisebewegungen sind nicht primär durch politische Entscheidungen, sondern letztlich durch epidemiologische Vorkehrungen zusammengebrochen.
Auch für mich war am Anfang zunächst unverständlich, wie ein „Virus“ einen solch umfassenden Lockdown zur Folge haben konnte. Die teils dramatischen Entwicklungen in Italien und anderen Staaten sowie die Befunde über das Corona-Virus, die eben bestätigen, dass es sich hierbei nicht um ein herkömmliches „einfaches Virus“ handelt, haben mich jedoch dann sogleich von den eingeleiteten Maßnahmen überzeugt. Vielmehr noch hat mich von Beginn an das Potenzial dieses Wendepunkts für eine neue Sinnlichkeit und einen Lernprozess ermutigt. Auch für eine Zeit der spirituellen Läuterung unserer Seelen. Denn die Ausbreitung der Infektion in Deutschland und der darauf folgende Lockdown fiel in Deutschland etwa in einen für Muslime besonderen Zeitraum: die Phase der gesegneten drei Monate Radschab, Schaban und Ramadan.
Diese Zeit, die den siebten, achten und neunten Monat des islamischen Mondkalenders umfassen, ist für alle Gläubigen traditionell eine Zeit der besonderen Einkehr. Aus meiner Sicht war diese Phase dieses Jahr noch bedeutungsvoller, weil die Gläubigen im Jahr 2020 größtenteils dazu bestimmt waren, diese Zeit in den eigenen vier Wänden und ohne Kontakt zu den Glaubensbrüdern und Schwestern zu verbringen. Auch die anlässlich des Ramadan stattfindenden gemeinschaftlichen Fastenbrechen im öffentlichen wie auch im Bekanntenkreis blieben leider aus. Nichtsdestoweniger kam pünktlich zu Beginn der Quarantäne mein neuer Gebetsteppich an, den ich aus dem Internet bestellt hatte. Mit beigelegt zur Lieferung war ein Zettel, wo folgende ermutigende Worte anlässlich der Quarantänezeit standen: „Home [hom]. Substantiv. Ein Ort an dem man entspannt Whudu / Abdest (islamische Waschung) nehmen, im kuscheligen Pyjama das Gebet verrichten und grenzenlos Chaj (Tee) trinken kann.“
Durch das Gebet in den eigenen vier Wänden, durch das Fasten in den eigenen vier Wänden, und durch das Studium der Worte des Barmherzigen in den eigenen vier Wänden, gewannen in dieser teils bedrückenden Zeit zwei grundlegende Aspekte unseres Glaubens eine besondere Bedeutung für mich: das Gedenken Allahs und die Dankbarkeit. Denn Danksagung und Vergegenwärtigung des Allerbarmers sind die eigentlichen Schlüssel zur individuellen Freiheit.
Diejenigen, die gänzlich mit Unverständnis, gar mit Widerstreben auf die eingeleiteten Maßnahmen blicken, geben vor, sich in ihrer Freiheit eingeschränkt zu fühlen. Sie können es nicht wahrhaben, dass sie nicht ins Ausland reisen und ungezügelt Urlaub machen dürfen. Sie können es nicht wahrhaben, dass sie nicht ohne Begrenzung drinnen wie draußen feiern dürfen. Sie können es nicht wahrhaben, dass sie nicht unendlich konsumieren können, um ihren Status zu befriedigen. Kurz, Sie können es nicht wahrhaben, dass Ihnen das enthemmte Leben genommen wird, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Sie fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt, dabei merken sie nicht, wie sehr die eigene Ego-Feier ihre Freiheit eigentlich einschränkt.
Genau so hat auch Allah den Menschen geschaffen. So heißt es im edlen Koran: „Siehe, wir erschufen den Menschen aus einem Tropfen, einem Gemisch, um ihn zu prüfen, und schufen ihn hörend, sehend. Siehe, wir leiteten ihn auf den Weg, ob dankbar oder undankbar.“ (Sure 76 / Verse 2-3) Ob dankbar – oder undankbar. Allah hat uns auf seinem Weg rechtgeleitet, aber es ist uns die Freiheit gegeben, den unermesslichen Gaben des Herrn dankbar oder undankbar zu sein. Dies wird auch nochmal in Sure 27, Vers 40 betont: „Wer dankbar ist, tut sich das selbst zugute, doch wer undankbar ist – siehe, mein Herr ist auf keinen angewiesen, edelmütig.“
Aber wäre es denn richtig, undankbar zu sein? Allah, der Allmächtige, jedenfalls benötigt unsere Dankbarkeit nicht! Aber aufgrund der Größe seiner Barmherzigkeit kann er mit der Undankbarkeit seiner Diener nicht einverstanden sein. So wird in Sure 39, Vers 7 unterstrichen: „Wenn ihr undankbar seid, dann – siehe, Gott ist nicht auf euch angewiesen und billigt nicht, dass seine Knechte undankbar sind. Und wenn ihr dankbar seid, billigt er das für euch.“
Vergegenwärtigen wir jedoch unser persönliches Leben. Wie oft kommt es vor, dass wir für die Hilfe oder gar die Opferbereitschaft, die wir unseren engsten Mitmenschen – sei es die eigene Familie oder Personen aus dem engeren Freundeskreis – bereitstellen, trotz unseres Zutuns Unzuverlässigkeit oder gar Undank zu spüren bekommen? Und wie oft kommt es vor, dass wir aufgrund dieses Verhaltens sogar bereit sind, den Kontakt zu unseren Nächsten abzubrechen? Fühlt es sich nicht äußerst verletzend an, trotz geleisteter Hilfe Undankbarkeit oder Treulosigkeit zu erfahren? Nachdem wir dieser vermutlich auch persönlich erlebter Gefühle gedacht haben: Was ist mit unserer Undankbarkeit gegenüber Allah? Ist es da auch nur im Ansatz möglich, dem Herrn für seine unendlichen, verborgen wie offenkundigen Gaben und Segnungen nicht zu danken? Ist es denn dann überraschend, dass wir als Menschen, die Allah undankbar sind, einander auch Undankbarkeit zeigen?
Ein Mensch, der nicht dankbar ist, wird immer unzufrieden sein. Er wird immer klagen, er wird sich immer beschweren, er wird unglücklich sein. Undankbarkeit und Klage sind Gefühle, die wie ein Gift den Menschen im Herzen verderben. „O ihr Menschen! Gedenkt der Gnade Gottes, die er euch erwies! Gibt es denn einen Schöpfer – außer Gott –, der euch versorgen kann vom Himmel und der Erde? Kein Gott außer Ihm. Wie könnt ihr nur so verblendet sein?“ (Sure 35 / Vers 3) In der Tat, manche Menschen sind so verbohrt. Obwohl sie wissen, wie gut es Ihnen geht, gedenken sie nicht der Menschen, die in viel schwierigeren Situationen leben. Müssten sie auch nur eine halbe Stunde des Lebens dieser Menschen leben, sie würden sofort versuchen zu flüchten.
Wahrhaftige Freiheit des Einzelnen ist die Dankbarkeit bei jeglichen Gegebenheiten. Dankbar zu sein, nicht nur, wenn es einem materiell wie seelisch gut geht, sondern auch dankbar zu sein, selbst wenn man sich falsch behandelt fühlt. Denn es ist ein Ausdruck von Größe, wenn man für sich sagen kann, „Ich wurde ungerecht behandelt, aber ich habe kein Unrecht getan!“, oder „Ich habe Unzuverlässigkeit erfahren, aber ich war immer zuverlässig!“, oder „Ich wurde getäuscht, aber ich habe nicht getäuscht!“.
Dankbarkeit macht uns produktiver, glücklicher, lebendiger, gesünder und hoffnungsvoller. Die zentrale Botschaft des Korans ist es, der Mensch möge bestmöglich Allah gedenken, Dankbarkeit zeigen und sich vom Herzen dem Herrn binden, um Glückseligkeit und Ruhe zu finden. „Die aber glauben und deren Herzen im Gedenken Gottes Ruhe finden – ja, finden nicht die Herzen im Gedenken Gottes Ruhe?“ (Sure 13 / Vers 28) Diejenigen jedoch, die Allah vergessen, setzen ihr Ego an den Ort, an dem sie sich von Allah entleert haben. Ruhige Herzen suchen sie dann vergeblich. Gerade in dieser Zeit, wo die Pandemie jetzt erst richtig losgehen wird, sollten wir die Ruhe unserer Seele finden, Allah in schönster Form gedenken, dankbar sein und uns von den Fesseln des Egos befreien. Nur so lösen wir uns von der Illusion der grenzenlosen Freiheit und ebnen den Weg für die grenzenlose Freiheit unserer Seele, auch in den eigenen vier Wänden. In diesem Sinne, lasst uns wie der Gesandte Gottes Sayyidina Muhammad (Friede sei mit ihm) zu Allah beten: „Oh Allah! Hilf mir Deiner zu gedenken, und Dir dankbar zu sein, und Dir ein guter Diener zu sein.“