Ganz gleich, wie gewahr wir uns unserer Fehler und Neigungen sind. Wir sind Menschen. Wir sind fehlbar und es ist sogar so, dass wir zuweilen Gefallen an unseren Fehlern finden. Wir schauen von Zeit zu Zeit mit stiller oder gar offen zum Ausdruck gebrachter Freude in die Abgründe unseres Selbst. Und mit noch größerer Freude, blicken wir in fremde Abgründe. Die menschlichen Tiefen faszinieren uns. Wir sind zu Ausgrenzung und Hass fähig. Wir sind von Eigennutz und persönlichen Begierden getrieben. Der Neid und die Missgunst nagen an uns.
Und selbst der Versuch, uns von diesem Dunklen unserer Möglichkeiten abzuwenden, birgt neue Fallstricke. Da wir die Existenz menschlicher Abgründe nicht leugnen können, sprechen wir uns von ihnen frei, indem wir sie zum Merkmal des Anderen machen. Die Anderen sind in diesen Abgründen versunken und zum Schlechten fähig, wohingegen wir die Tiefen unserer menschlichen Existenz überwunden haben und empor gestiegen sind, über die Schlechtigkeit der Anderen hinweg zu einem vollkommeneren Dasein.
Selbst das Gute versuchen wir auf Kosten der Herabsetzung Anderer für uns zu reklamieren. Wir beanspruchen Überlegenheit für uns. Als ausschließliches Merkmal und zugleich als Legitimation für unser Handeln. Jedes Detail kann diesem Überlegenheitsanspruch zum Opfer fallen. Namen, Herkünfte, Glaubenszugehörigkeiten, Kleidung, Sprache, Hautfarbe. Wir brauchen tatsächliche oder konstruierte Unterschiede, um sie und damit letztlich andere Menschen zu hierarchisieren – mit uns ganz oben in dieser Rangfolge.
Ein Ausweg aus dieser Verirrung findet sich in dem Moment, in welchem wir uns intensiver mit den Grundlagen unserer Existenz als von Gott erschaffene Wesen beschäftigen. Dabei finden wir uns zurückgeworfen auf ganz grundlegende Wahrnehmungen, die sich von den Grenzen, mit denen wir uns von einander zu unterscheiden suchen, abheben und uns enger zusammenführen.
Wir entdecken dabei das hebräische Wort „ru’ach“. Es bedeutet „Wind“ und „Atem“. Es kommt uns bekannt vor: „ruh“ steht im Arabischen für den „Lebensodem“ oder den „Geist“. Das Hebräische kennt im religiösen Kontext weitere Begriffe für den Atem, etwa „nefesch“ oder „neschama“.
„Neschama“ ist der Lebensatem, den laut dem Buch Genesis, Gott seinem Geschöpf Adam einblies und ihn so zu einem lebendigen Wesen „nefesch“ werden ließ. „Nefesch“ bezeichnet dabei den „Atem“ und den „Atemweg“ , also auch die „Kehle“ oder den „Schlund“. Damit beschreibt „nefesch“ auch die Begierde des Menschen nach Nahrung und Wasser oder allgemeiner seine Begierde und sein materielles Verlangen. Dabei besteht die Vorstellung, dass der Mensch nicht eine „nefesch“ hat, sondern er ist und lebt als „nefesch“.
All diese Vorstellungen sind uns Muslimen vertraut. „Nafs“ ist für uns die Beschreibung unserer Seele. „Nafas“ ist das verwandte Wort für den „Atem“.
Unsere Existenz im Diesseits ist geprägt von unserem Widerstreit mit uns und unseren Seelenzuständen. Wir befinden uns permanent im Kampf mit dem eigenen Selbst, also im „Mudschahadat an-nafs“.
Dabei befinden sich unsere Seelen in unterschiedlichen Zuständen und Eigenschaften.
Unser Weg auf der Suche nach Gott beginnt mit unserer Seele als „an-nafs al-ammara“, als die Seele, die zum Übel aneifert.
In diesem Zustand ist unsere Seele nicht fähig, sich Gott zu ergeben, sich ihm hinzuwenden. Unser Handeln folgt nicht den Geboten Gottes, sondern unseren eigenen Sehnsüchten, unserer Habgier, unserem Egoismus, unserer Arroganz.
Im Koran (12, 53) wird sie so beschrieben:
„Und ich erachte mich selbst nicht frei von Schwäche; denn die Seele gebietet oft Böses, die allein ausgenommen, deren mein Herr Sich erbarmt. Fürwahr, mein Herr ist allverzeihend, barmherzig.“
Bald aber fangen wir an zu verstehen, welche Konsequenzen unser eigennütziges Verhalten hat. Wir sehen den Schaden, den unser Verhalten für andere und unsere Umwelt verursacht. Gleichwohl können wir uns unseren Trieben und Bequemlichkeiten nicht entziehen. Wir fallen immer wieder in unsere schlechten Verhaltensmuster zurück. Unser Gewissen empfindet Reue. Dennoch begehen wir die alten Fehler erneut. In diesem Kreislauf gefangen ist die „an-nafs al-lawwama“, die sich tadelnde Seele.
Im Koran (75, 1-2) wird sie wie folgt erwähnt:
„Nein! Ich schwöre beim Tag der Auferstehung. Nein! Ich schwöre bei der Seele, die sich selbst tadelt.“
Beginnen wir, Gefallen am Gebet und den religiösen Pflichten zu finden und sie nicht als lästige Formalitäten zu wiederholen? Fühlen wir uns wirklich zufrieden und erfüllt im Moment des Gebets? Gelingt es uns, einen winzigen Bruchteil der Liebe des Schöpfers zu seinen Geschöpfen nachzuempfinden, uns also emphatisch, vergebend und in Zuneigung uns unseren Mitmenschen hinzuwenden, entwickelt sich unsere Seele zu einem inspirierten Ich, zur „an-nafs al-mulhima“.
Über diese Inspiration und Rechtleitung Gottes kann es uns gelingen, den Zustand einer zufriedenen, einer beruhigten Seele zu finden, die „an-nafs al-mutma’inna“. Von Achtlosigkeit befreit, gegen die Einflüsterungen der das Üble aneifernden Seele unempfänglich geworden, erreicht der Mensch den Zustand der inneren Freude, Ruhe und Zufriedenheit im Vertrauen auf Gott.
Der Koran (89, 27-30) beschreibt dies wie folgt:
„ Oh du Seele, die du Ruhe gefunden hast. Kehre zu deinem Herrn zufrieden und mit Wohlgefallen zurück. Tritt unter Meine Diener. Und tritt ein in Mein Paradies.“
Für die Zustände der Seele und die sich verändernden Eigenschaften des Menschen auf der Suche nach Gott kennen die vielen muslimischen Gelehrten unterschiedlichste Metaphern und Gleichnisse.
So wird der oben dargestellte Weg der Seele zu Gott auch damit beschrieben, dass der Mensch zu Beginn zwischen „deins und meins“ unterscheidet, also klare Grenzen zwischen sich und andere zieht. Danach erkennt er, dass „meins deins ist und deins ist meins“, dass wir also aufeinander angewiesen sind und niemand ohne Konsequenzen für andere für sich allein leben kann.
Wenn der Mensch nun die Wahrheit erkennt, dass er im Grunde nichts wirklich besitzt, sondern er nur auf begrenzte Zeit an der Welt teilhaben kann und ihm Anvertrautes verwaltet und an andere weitergibt, begreift er, dass es „weder meins, noch deins“ gibt.
Die zufrieden Seele erkennt schließlich, dass nichts und niemand von Gott getrennt ist, dass wir vielmehr alle in ihm geeint sind – es gibt „kein ich und kein du“. Nur die Liebe Gottes und die Liebe zu Gott.
Diese finale Erkenntnis wird im mystischen Islam mit dem Duft einer Rose verglichen. Eine flüchtige Erkenntnis, die wir nur im Moment wahrnehmen, da wir sie durch unseren Atem in uns aufnehmen – und uns an die Schöpfung unserer Selbst durch den Atem Gottes erinnern.
Und hier – mit dem Duft der Rose – schließt sich dann der Kreis, den wir mit dem hebräischen „Neschama“ begonnen haben: Mit der Formulierung „Prophet der Liebe“ wird im Islam Isa bin Maryam beschrieben – Jesus, der Sohn der Maria: „Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart.“