Rassismus, Nationalismus, Gewalt gegenüber Minderheiten, Frauen und Kinder, eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich: Das sind die gravierensten Probleme unserer Gegenwart. Ohne eine ehrliche und schmerzhafte Auseinandersetzung mit diesen Problemen können wir sie als Gesellschaft nicht überwinden.
Spirituelle Menschen sehen in ihrem Glauben oft eine Ressource und Anleitung, um diese Ungerechtigkeiten zu bekämpfen oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Aber reicht es aus, wenn wir als Muslime sagen, dass es im Islam keinen Nationalismus oder keinen Rassismus gibt? Versperren solche oberflächlichen Slogans nicht vielmehr den Blick für verschiedene Formen von Ungerechtigkeit in unserer Zeit? Allzuoft beobachtet man gebetsmühlenartig wiederholte Slogans und auswendiggelernte Floskeln, um vorhandene Probleme klein zu reden oder ganz unter den Teppich zu kehren.
Die Imame und muslimischen Gelehrten haben eine hervorgehobene Rolle in der Gemeinschaft. Das Wissen über den Glauben verleiht ihnen eine bestimmte Form der Autorität, wenn sie vor die Gemeinde treten. Aber Wissen bringt auch eine große Verantwortung mit sich, eine Verantwortung für die Gemeinde aber auch für die Gesellschaft insgesamt. Die Imame und muslimischen Gelehrten spielen mit ihren Predigten und Schriften lenken oftmals die Spiritualität der Gläubigen in eine bestimmte Richtung. Manchmal scheint die Spiritualität jedoch zu einer Flucht vor gesellschaftlichen Problemen zu werden.
Eine einseitige, fast schon exzessiv praktizierte Spiritualität bietet nur dem Anschein nach einen Ausweg aus der Konfrontation mit den unangenehmem Weltlichen. Dabei stehen beide Dinge – Weltliches und Spirituelles – gar nicht im Gegensatz zueinander. Vielmehr scheint es für die eigene Spiritualität auch fruchtbar zu sein, sich mit den weltlichen Herausforderungen zu beschäftigen. Spiritualität bedeutet auch, gestärkt vom Glauben eigene Impulse im Leben zu setzen.
In manchen mehrheitlich muslimischen Ländern zeigt sich eine regelrechte Flucht in die Spiritualität. Man macht es sich gemütlich und hüllt sich angesichts der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des Landes in Schweigen, aus Angst vor der politischen Autorität. Dabei müssten grade unsere Gelehrten die Misstände ansprechen und die Gläubigen sensibilisieren, positive Impulse und Iniativen in der Gemeinschaft zu aktivieren.
Wenn der Glaube und die Gemeinschaft der Gläubigen das direkte Umfeld, in dem sie leben, nicht zum Positiven hin ändern, was für einen Wert hat dann die individuelle Spiritualität zwischen den eigenen vier Wänden? Wenn wir als Muslime Unrecht in den eigenen Reihen, in der Gesellschaft oder im Land, in dem wir leben, nicht einmal beim Namen nennen, was ist unsere Spiritualität dann noch wert?
Spirituell und gläubig sein bedeutet nicht, verträumt in den Himmel zu schauen und sich in Askese und Abkehr zu üben. Es beinhaltet auch ein Engagement zum Wohl der Gemeinschaft und der gesamten Gesellschaft. Eine Spiritualität, die lähmt und passiv macht, ist keine Spiritualität, sondern am Ende Opium für das Volk.