Das Wissen um die eigene Sterblichkeit ist uns Menschen Segen und Bürde zugleich. Wir können in dem Wissen um die zeitliche Begrenztheit unseres Lebens diesem einen Sinn verleihen, der über den Bestand unserer körperlichen Existenz hinausreicht. Gleichzeitig hinterfragen wir den Sinn unseres Handelns, unseres Hoffens, unserer alltäglich ausgefochtenen Kämpfe um Anerkennung, Bedeutung und Wertschätzung, wenn wir noch nicht einmal wissen, ob unser Leben am morgigen Tag oder gar in der nächsten Minute überhaupt fortdauern wird.
Der Tod ist uns in diesem breiten Spektrum der Gefühle und Gedanken manchmal ein gnädiger Freund, manchmal ein uns viel zu früh heimsuchender Gegner. Der Umgang mit dem Tod ist in den verschiedenen Religionen und Kulturen ein sehr eigener, ein sehr besonderer Lebensabschnitt der Hinterbliebenen. In unserer muslimischen Gemeinschaft nimmt dieser Umgang Formen und Gestalten an, die uns auffangen, einen behutsamen Abschied ermöglichen aber zuweilen auch irritieren können.
Ich habe in meinem Leben nun zweimal als unmittelbar betroffener nächster Angehörige dem Sterben und der unmittelbaren Zeit nach dem Tod ins Gesicht blicken müssen. Beide meiner Eltern habe ich innerhalb von etwa zwei Jahren buchstäblich zu Grabe getragen. Die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, sollen in der Darstellung der zwiespältigen Momente nicht als Kritik verstanden werden, sondern als Frage, ob es uns als Gemeinschaft nicht gelingen kann, diesen Abschnitt im Leben eines jeden Menschen noch sorgsamer zu gestalten und zu begleiten.
Der Abschied von Verstorbenen ist im Rahmen unserer religiösen Bräuche und Sitten ein sehr hektischer Zeitraum. Der Leichnam soll möglichst binnen kurzer Zeit, am besten innerhalb von drei Tagen der Erde übergeben werden. Für die Hinterbliebenen ist dieser zeitliche Rahmen eine Herausforderung und zugleich eine Erleichterung. Noch betäubt von dem schmerzhaften Verlust hat man zu funktionieren, Entscheidungen zu treffen, sich um die Details der Bestattung zu kümmern. Es bleibt keine Zeit, in sich zusammenzufallen oder zu verzweifeln. Man ist stets umgeben von Trost und Hilfe spendenden Bekannten und Freunden. Der Rückzug in die Einsamkeit der eigenen Gedanken ist kaum möglich. Für jeden Menschen mag das eine unterschiedliche Wirkung haben.
Wenn man im Moment des Sterbens nicht anwesend war, ist die Totenwaschung als Vorbereitung auf die Bestattung der erste Moment der unmittelbaren körperlichen Nähe zum Tod und zu dem sterblichen Körper seiner Liebsten. Als Sohn steht man hier für den Vater, als Tochter für die Mutter und im Falle des Todes anderer Angehöriger als Mann für den Mann und als Frau für die Frau in der Verantwortung.
Es ist ein gnädiges Geschenk unseres Schöpfers, wenn der Tod nicht mit groben Verletzungen der körperlichen Hülle unserer Nächsten erschienen ist. Dann sind keine körperlichen Traumata sichtbar und die Toten liegen wie Schlafende vor uns und warten darauf, von uns umsorgt zu werden. Es sind solche Momente der merkwürdigen Dankbarkeit selbst im Angesicht des Todes, die uns mit Demut gegenüber unserem Schöpfer erfüllen sollten.
Ob dieser Moment der Totenwaschung als hilfreicher Abschied empfunden werden kann, hängt zu einem großen Teil davon ab, ob die hauptberuflichen Totenwäscherin oder der Totenwäscher ein hinreichendes Maß an Sensibilität aufbringen können. Für sie sind dies alltägliche Momente, die mit Routine und eingeübten Schritten verbunden sind. Für die persönlich Betroffenen sind es sehr intensive Minuten einer ritualisierten aber doch sehr intimen Art des letzten Kontakts, der letzten Berührungen.
Wenn der Leichnam noch kalt von der Aufbewahrung vor einem liegt, kostet es Überwindung, Nähe herzustellen, an den Körper heranzutreten, in ihm und den häufig erstarrten Gesichtsausdrücken oder Körperhaltungen den geliebten Menschen wieder zu erkennen.
Sorgsam wird der Intimbereich der Verstorbenen mit Tüchern abgedeckt. Das Wasser wird angestellt und mit langsamen Bewegungen über den Leichnam geführt. Es ist eine Art Wiederholung der ersten Waschung, die man als neugeborenes Kind von seinen Eltern erhält, nur dass die Rollen nun umgekehrt sind und die Waschung nicht ein neues Leben auf die Welt vorbereitet, sondern den Körper eines erloschenen Lebens auf die Beerdigung. Gleichwohl sind es Handgriffe von ähnlicher Behutsamkeit und Fürsorge. Man achtet darauf, dass kein Wasser in den Mund oder die Nase gelangt. Man verschließt die Augen, bevor man das Gesicht wäscht.
Und das warme Wasser bewirkt, dass sich die Starre des toten Körpers langsam löst und die Glieder wieder geschmeidig und beweglich werden. Ab diesem Moment fühlen sich die Berührungen vertrauter an. Sie erinnern an die Wärme und Geborgenheit, die dieser Körper einem als Kind zu vermitteln vermochte. Und man empfindet erneut diese eigenartige Dankbarkeit, trotz des großen Verlustes diese letzte Aufgabe erfüllen, diese letzte Verantwortung tragen zu dürfen.
Nachdem jeder Zentimeter der Haut gewaschen und wieder getrocknet wurde, wird der Leichnam in schlichte weiße Tücher gehüllt. Der Stoff wird so verknotet, dass die Tücher dem Gewicht des Körpers standhalten können und die Knoten gleichzeitig als Traghilfe dienen. Es ist der letzte Moment, in welchem man den Verstorbenen ins Gesicht blicken kann, bis dann auch der Kopf von den Leichentüchern umhüllt wird.
In einem Sarg wird der Leichnam zum Totengebet geleitet. Die Trauergemeinde hat in den türkisch geprägten Varianten des Totengebets neben den im Vergleich zu den täglichen Ritualgebeten stark verkürzten und angedeuteten Gebetshaltungen, die nur im Stehen verrichtet werden, zwei Momente des gemeindlichen Handelns, die sehr bewegend sind. Der Imam nennt den Namen des oder der Verstorbenen und fragt die Anwesenden, wie sie diese Person kannten. Es gehört zu den guten Sitten einer Trauergemeinde, diese Frage so zu beantworten, dass man die Toten als gute Menschen kannte. Danach schließt sich die Frage an, ob man die verstorbene Person freispricht, sollte sie sich durch irgendein Verhalten zu Lebzeiten zu Lasten der Anwesenden materielle oder immaterielle Schuld aufgeladen haben. Und auch nun wieder gehört es zu den guten Sitten einer Trauergemeinde, die verstorbene Person von jeglicher Schuld freizusprechen.
Es ist dieser Moment der zwischenmenschlichen Vergebung, mit der die Verstorbenen in die Gnade ihres Schöpfers hinüber geleitet werden. Ein letzter Dienst zwischen Sterblichen, um ihnen den Weg zur Gnade ihres Schöpfers und damit ins Paradies zu ebnen.
So sehr die Vorbereitung auf die Bestattung bis zu diesem Moment von Ritualen und über Generationen hinweg eingeübten Bräuchen geprägt war, so unorganisiert, ja geradezu chaotisch kann sie im Folgenden verlaufen.
Am muslimischen Grabfeld gibt es in der Regel keine professionellen Bestatter. Das Grab wartet ausgehoben und mit Stützbrettern stabilisiert auf die Erdbestattung der Verstorbenen. Der Imam rezitiert üblicherweise die Sure Yasin. Während dessen die Männer der Trauergemeinde die Toten aus dem Sarg heben und ins Grab überführen.
Dabei steigt in der Regel einer der nächsten männlichen Angehörigen in das Grab hinunter. Zu keinem Zeitpunkt in seinem Leben ist man dem Ort seiner voraussichtlichen letzten Ruhe so nah wie in diesen Augenblicken. Als Lebender steht man unten im Grab und nimmt den verstorbenen Angehörigen entgegen, der einem von oben, gehalten an den Enden der Leichentücher, hinuntergereicht wird. Behutsam bettet man den Körper in die Erde. Man legt ihn auf die Seite, auf die rechte Schulter, so dass das Gesicht gen Mekka gewandt ist. In dieser Lage stabilisiert man den Körper mit der Erde, die man wie ein Kissen unter den Kopf und gegen den Rücken drückt. Es ist ein letztes zur Ruhe Betten.
Mit Hilfe der anderen Trauergäste steigt man wieder aus dem Grab und beginnt damit, das ausgehobene Erdreich über den Leichnam zu verteilen und das Grab wieder aufzufüllen. Mit anderen zusammen schaufelt man unablässig und hat das Gefühl, dass sich dieses Grab nie schließen wird – wie die Lücke im Herzen, welche die Verstorbenen hinterlassen. Es ist eine Aufgabe, die man nicht allein bewältigen kann. Sobald man ermüdet, reicht man die Schaufel weiter und ein anderer setzt die Arbeit fort. So trägt jeder seinen Anteil dazu bei, bis das Grab dann doch plötzlich verschlossen ist und die restliche Erde sich darüber wölbt, wie eine Narbe, die das trauernde Herz der Hinterbliebenen für den Rest ihres Lebens begleiten wird.
An dieser Schilderung erkennt man, dass eine muslimische Beerdigung keine Trauerfeier in Anzug und Gewandt ist. Es ist eine Laienbestattung, von Menschen, die den Tod aus ihrem Alltag heraushalten, und die doch von ihm überrascht werden, obwohl sie ihn doch zeitlebens erwarten. Es ist eine Trauergemeinde in Alltagskleidung. Sie erinnert uns daran, wie unvorhersehbar, wie alltäglich der Tod uns ereilen kann. Dieses Plötzliche, dieses Unvorbereitete spiegelt sich während der gesamten Bestattung wieder.
Man ist überfordert, wartet auf Anweisungen jener, die Erfahrungen mit Beerdigungen gemacht haben, weil sie selbst ihre Nächsten begraben mussten oder dabei geholfen haben. Es gibt schweigende und weinende Schaufler, es gibt hektische Anweiser, die die anderen dirigieren. Es gibt Helfer, Träger, Unterstützer. Es wird über Praktisches gesprochen, wann welches Stützbrett entfernt werden muss, wann, wohin die nächste Schaufel Erde fallen sollte. Ich weiß nicht, ob man sich als Angehöriger mit mehr Andacht und Ruhe besser fühlt als mit dieser Hektik, die aus der Situation entspringt, dass keiner der Anwesenden sich auf diesen Moment hat vorbereiten können. Daraus folgt aber auch eine ganz praktische, spontane Unterstützung bei der Beerdigung – mit der Erschwernis kommt auch die Erleichterung.
Jetzt, wo die letzte körperliche Arbeit verrichtet ist, stehen die Männer unbeholfen und in einer Art schweigender Ratlosigkeit um das Grab herum. Es werden Koranverse rezitiert. Aber niemand weiß so recht, wie er sich nun verhalten soll. Dann folgt der Aufruf, nun die Frauen ans Grab zu lassen, die während der gesamten Beerdigung im Hintergrund mit Abstand zum offenen Grab gewartet haben.
Es heißt, man mute damit den Frauen nicht den Anblick der Grablegung zu, um sie in ihrer Trauer nicht zu überfordern. Ich weiß nicht, ob das begründet ist. In vielen Momenten unseres gesellschaftlichen Lebens erweisen sich die Frauen als die emotional Stärkeren. Vielleicht liegt es daran, dass die Männer die körperlich schwerere Arbeit der Grabschließung übernehmen.
Jetzt jedenfalls zeigt sich ein weiteres Mal, dass es die Frauen sind, die für Anmut und Schönheit nicht nur in unserem Leben, sondern auch im Augenblick des Todes sorgen. Dort, wo die Männer nach verrichteter körperlicher Arbeit nicht mehr wissen, was sie tun sollen, sind es die Frauen, die das Grab schmücken, erste Bepflanzungen vornehmen, es mit Blütenblättern verzieren und zärtlich über die Erde am Kopfende des Grabes streichen.
Die Erfahrungen mit dem Tod und der Bestattung in einer muslimischen Gemeinschaft mag in ihrer oben dargestellten Form eine sehr persönliche sein. Vielleicht erkennen sich manche aber auch in diesen Erfahrungen wieder. Was uns eint, ist die auf ewig unbeantwortete Frage, was nach dem Tod bleibt. Diese Ungewissheit können wir mit unserem Glauben niemals wirklich überwinden, sondern nur mildern und mit Hoffnung zu überstrahlen suchen.
Die Erfahrungen des Todes, die wir zu Lebzeiten machen, sollten uns dazu ermahnen, unser irdisches Leben damit zu verbringen, auf den Augenblick unseres Todes vorbereitet zu sein. In unseren unterschiedlichen Glaubenswelten sind es die gleichen Hoffnungen und Bestrebungen, die uns in dieser Mühe einen:
„Am Tag des Todes werden deine Sinne ausgelöscht: Hast du das Seelenlicht, das der Gefährte deines Herzens sein sollte? Wenn dir der Staub im Grab die Augen verschließen wird, hast du etwas, um das Grab zu erhellen? Wenn deine Hände und Füße zerfallen, hast du dann die Flügel und Federn, mit denen deine Seele auffliegen kann?“ (Rumi)
„Oh mein Gott und mein Herr, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir. Oh mein Gott und mein Herr, nimm von mir alles, das mich hindert zu Dir. Oh mein Gott und mein Herr, gib mir alles, was mich fördert zu Dir. Amen.“ (Niklaus von Flüe)