Ein Gastbeitrag von Büşra Delikaya
Es ist nicht nur einmal, dass uns die soziale Ungerechtigkeit dieser Welt schmerzlich bewusst wird. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ein Schwarzer in den USA rassistischer Polizeigewalt zum Opfer fiel. Etliche Namen wie Michael Brown und Sandra Bland gingen mit trauriger Aktualität versehener Namen wie Breonna Taylor und George Floyd voraus. Die Liste ist lang, das Problem nicht neu, vielmehr verweilte es bis dato als potenzielles Todesurteil Schwarzer Menschen unberührt im Alltag. Eine Ermordung folgte der nächsten, ein neuer Verlust und derselbe Kampf nach Gerechtigkeit.
Die brutale Ermordung ging viral – George Floyds letzten Minuten unter den drückenden Knien eines uniformierten Mörders für immer in Timelines und Privatnachrichten konserviert. Der dokumentierte Schrecken der Tat zwingt die haftende Passivität in die Knie. Die strukturelle Deklassierung Schwarzer Menschen wirft derzeit Schatten über die unbekümmerte Gedankenwelt so vieler. Das Nicht-Schwarz-Sein und die damit einhergehenden Vorzüge, die erst mit der Diskriminierung Schwarzer Menschen eine Existenz finden, bleiben einigen mehreren nun wiederholt im Halse stecken.
Erfreulich ist es aber, wie ein zwar verhältnismäßig geringer, aber vergleichsweise größerer Teil Nicht-Schwarzer sich nun mit dem Ursprung ihrer Privilegien auseinandersetzen, der das Unrecht manifestiert, welches ebenjene Privilegien erst hervorbringt. Der nicht erst seit Jahrzehnten und auch nicht nur in den USA verankerte Rassismus gegenüber Schwarzen führt zu weltweiten Protesten und einer Welle tiefer Solidarität. Menschen sind fassungslos über den unverhohlenen Rassismus und seine rohe Brutalität. Teilweise sind Menschen aber – und das birgt eine Ausweitung des Problems – fassungslos über all das, was gleichsam in ihren eigenen Ländern und Communities geschieht. Sie sind entrüstet darüber, dass rassistische Ideologien solch eine Macht beanspruchen, der sie innerhalb der eigenen Community mindestens genauso viel Raum gewähren, mit Worten und Haltungen – oder der Absenz beider.
Wie das Sprechen ist auch das Schweigen eine Entscheidung. Vor allem situatives und verhängnisvolles Schweigen fordert eine Erklärung, die der Mensch auch dem Schöpfer der Leidtragenden schuldet. Denn es sind nicht nur Stimmen, die gegen Gerechtigkeit vorgehen, oft genug ist es auch ihre Enthaltung, die das Unrecht besonders laut stimmt. Menschen wissen das. Und Menschen entscheiden sich bewusst dafür, zum Rassismus in den eigenen Reihen zu schweigen. So verschiedene Gründe dies auch haben mag, kann es im Grunde immer wieder zu einer priorisierten Rolle des eigenen Egos zurückgeführt werden. Und dem abhandengekommenen Kern der Solidarität.
Denn meist handelt es sich hierbei um Unrecht, dessen Annahme oder gar Bekämpfung eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen diskursiven Rolle voraussetzt. In diesen Momenten mutieren selbst gerierte Gerechte zu chronischen Moralphlegmatikern, oft weil sie sich vor sozialer Ächtung der Peergroup fürchten. Oder sich die problembehafteten Länder, Kreise, Systeme als alleinige Problemträger wunderbar schick in der eigenen Ideologie machen. Und genauso oft oder häufiger, weil sie dem Problem und somit den Leidtragenden nicht genug Wert beimessen, das weil sie der sozialen Hierarchie unkritisch unterliegen und das wiederum, weil sie ihrer Nation und Community keine Ungerechtigkeit zugestehen wollen. Eben weil sie sich konstruierten Identifizierungen wie nationalen nicht entledigen wollen, sie unter keinen Umständen entwerten wollen. Selbstreflexion verlangt viele Zugeständnisse, und um diese zu machen, bedarf es einem Trotzen dem eigenen Ego gegenüber.
Wenn der Raum eigener sozialer Hoheit aber eher zur Brut- und Raststätte des Egos wird, ist es interessant, wie Solidarität in politischen Kontexten funktioniert – oder eben nicht funktioniert. Interessant ist, wie es derselbe Gerechtigkeitssinn ist, der Menschen zu einem wichtigen Protest gegen Unrecht führt, aber beim kleinsten Deut eines Perspektivwechsels ein jähes Ende findet. Dann nämlich endet die Gerechtigkeit mit den Grenzen der sozialen Komfortzone. In dieser ist es schließlich bequem, hier setzt einem keine allzu große Verantwortung zu, hier schlägt die Kritik nicht zurück. Es ist ein behänder Wurf nach außen, so angenehm fern von der Rolle des Fangenden, vor allem der des Haltenden.
Aber kann dann noch in irgendeinem Kontext von irgendeinem Gerechtigkeitssinn, von Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit dessen gesprochen werden – dann, wenn die eigene menschengemachten Position des Überlegen(er)en bedenkenlos ausgeschöpft wird, die Privilegien ausgiebig genossen während die Pfeiler der Erhebung niemals hinterfragt werden und nur mit dem Anflug von Verantwortung das Leid der Unterprivilegierten lediglich mittels Schweigsamkeit mundtot gemacht wird. Denn mehr braucht es oft gar nicht, wenn soziale Asymmetrie im Spiel ist.
Ist man Teil einer Mehrheit, ist der Rückzug aus notwendigen Debatten ausschlaggebend. Es ist eine ungleiche Gesellschaftsordnung unserer und anderer Tage, die den Minderheiten nicht das Mitbestimmungsrecht über Relevanz und Agenda einräumt, das ja aber gottgegeben ist. Ihr Kampf gegen erlebtes Unrecht ist federführend, aber ohne essenzielle Unterstützung diskursiv Dominierender in Form von Eingeständnissen kaum tragbar. Wer in einzelnen, meist nach dem Cherry-Picking-Prinzip ausgesuchten Diskursen gegen Mechanismen protestiert, zu denen er in den Diskursen der eigenen Nation und Community schweigt, ist Teil einer nicht minder verbreiteten und schwerwiegenden Form des Unrechts. Dieses ruht meist auf der Erhebung von Identifikationsmerkmalen, die wiederum in mindestens einem Kontext Überlegenheit versprechen – auf Kosten anderer. Und allerspätestens hier fällt doch die Frage, wie viel Wert und Schönheit eine Tugend wie Solidarität noch besitzt, wenn ihr Einsatz von eigenen Interessen abhängt, noch vor denen aller Betroffenen.