Der Segen der Nacht

Es sind die gemeinschaftlichen Rituale von Religion, die auf uns besonders intensiv wirken. Das Dschuma-/Freitagsgebet im Islam, der Gottesdienst am Sonntag in der Kirche oder die Zusammenkunft eines Minjan, einer Betgemeinde im Judentum. Die Bilder von solchen Gebeten werden zu Symbolen der gemeinsam erlebten Spiritualität, ob nach innen oder nach außen.

Gemeinschaftliche Gottesdienste sind jedoch nicht die einzige mögliche Form für Spiritualität in den Religionen, insbesondere im Islam. Lange vor dem gemeinsamen Gebet war es die individuelle Erfahrung, zB die Spiritualität der Nacht, die die Herzen des Propheten und seiner Gefährten bewegten.

Von Anfang an ruft Allah teala den Propheten zum Gebet in der Nacht. Dieser folgt diesem Ruf bis an sein Lebensende. Noch bevor es das rituelle Gebet fünfmal am Tag gibt, steht der Prophet mitten in der Nacht und lobpreist seinen Herrn. In der Sure Muzzammil, eines der frühesten offenbarten Suren des Korans, ist der Appell sehr eindringlich, lyrisch:

Steh auf zur Nacht, nur eine kleine Weil’,
die Hälfte von ihr, oder mindere sie um ein Teil,
oder verlängere sie! Trag die Lesung vor, getragen!
Siehe, wir werden dir auferlegen ein schweres Wort.
Siehe, der Nacht Beginn ist eindrucksvoller, klarer ihr Wort.
Siehe, des Tages Mühe währt für dich fort und fort.
Gedenke deines Herrn, und widme dich ihm immerfort,
dem Herrn des Ostens und des Westens
– kein Gott ist außer ihm!
So nimm ihn dir zum Hort! (73:2-9)

Nicht das gemeinsame Gebet prägte die religiöse Praxis der ersten Gemeinde, sondern das tiefe Gebet in der Nacht, wenn die “Tages Mühe” zurückgelassen ist, wenn die Worte “klarer” zum Herzen dringen. Der Prophet (as) trug während dieses Gebetes den Koran, zumindest den bis dorthin herabgesandten Teil, vor. Ruhig, ohne Hast, Silbe für Silbe, Wort für Wort.

Aus der Exegese/ dem Tafsir von Mukatil bin Sulaiman, der ältesten uns vorliegenden Exegese des Korans, erfahren wir, dass seine Gefährten dem Vorbild des Propheten folgten. “Sie beteten nur nachts”, überliefert er. Lange beteten sie, bis ihre Füße vom Stehen anschwollen.

Alleine standen sie ihrem Herrn, “dem Herrn des Ostens und des Westens” gegenüber. Alleine prüften sie ihr Gewissen und warfen ihre Herzen selbst auf die Waagschale. Es war nicht nur ein Rezitieren von Koranversen. Das Gedenken an Allah ging viel weiter, bezog ihr ganzes Leben, ihren Alltag mit ein. In diesen Nächten setzte sich der Glauben fest in ihre Herzen, prägte Gottes Wort ihre Haltung und Perspektive.

Sie beteten zwar jeweils für sich allein, doch sie wussten, dass sie zu dieser späten Stunde nicht einsam vor Gott standen. Der Prophet stand mit ihnen, ihre Gefährten reihten sich unsichtbar neben sie ein. Mochten sie örtlich noch so getrennt sein, ihre Herzen waren in diesen Stunden eins. Gemeinsam, jeder für sich allein, nahmen sie Zuflucht bei dem Herrn der Welten und bezeugten: “kein Gott ist außer ihm”.