Es ist wieder ein Jahr vergangen und der Ramadan steht uns bevor. Jedes Jahr verbinden wir diesen Monat mit positiven Erlebnissen und den Segnungen des Fastens. Was für Außenstehende häufig wie eine große Überwindung und irrationale Selbstgeißelung wirkt, erleben wir Tag für Tag als zunehmende Erleichterung, als Zeit der Beruhigung unserer körperlichen Funktionen und Schärfung unserer Sinne, die nicht von dauerhaftem Konsum und dem Verzehr viel zu großer Mengen von Allem übersättigt und abgestumpft sind.
Wir entdecken immer wieder aufs Neue, was das Wort „brauchen“ wirklich bedeutet. Wir erfahren, was wir wirklich brauchen, um uns nicht mehr hungrig zu fühlen. Was und wieviel wir brauchen, um uns nicht mehr durstig zu fühlen. Wir entdecken – wie jedes Jahr – wie wenig wir brauchen, um zufrieden und dankbar zu sein.
Wir beobachten – im restlichen Jahr getrieben von der Hektik des Alltages – in diesen wenigen Tagen des Ramadan, wieviel Zeit uns zur Verfügung steht, wenn wir uns nur auf eine wichtige Sache konzentrieren, wie lang ein Tag sein kann, in welchem wir uns nicht mit Nichtigkeiten von dem ablenken, was uns eigentlich wichtig sein sollte.
Wir bemerken mehr als sonst, wie vergänglich unser Körper tatsächlich ist, wie faszinierend er funktioniert und sich immer wieder neuen Bedingungen anpassen kann, aber letztlich doch von Tag zu Tag seiner vorbestimmten Frist entgegengeht.
Dort, wo wir sonst immer neue Gelegenheiten suchen, um die Zeit totzuschlagen, ahnen wir, wie von Sekunde zu Sekunde die Zeit doch uns totschlägt – ohne große Gesten, ohne dramatische Effekte, ruhig und gleichmäßig wie das kaum hörbare Ticken eines Sekundenzeigers.
Der Prophet Mohammed (s.a.s.) soll gesagt haben: „In jeder Sekunde sterbe ich tausendmal und werde tausendmal wieder geboren.“ Ich weiß nicht, ob er das wirklich gesagt hat. Aber selbst wenn er es nicht gesagt haben sollte, erfüllt mich doch die Vorstellung, dass er es gesagt hat, ja dass er es vielleicht nur gesagt haben könnte, mit großer Hoffnung. Denn diese Worte geben wieder, was der Islam uns bedeuten sollte. Die zigfache Wiedergeburt unseres Bewusstseins im hier und jetzt und der daraus genährte Antrieb, sich selbst immer wieder zu hinterfragen und zu erneuern.
Während des Fastens, etwa 12 bis 14 Stunden nach unserer letzten Mahlzeit am Abend zuvor, beginnen in unserem Körper Stoffwechselprozesse, die als Autophagie bezeichnet werden. Der Begriff stammt aus dem altgriechischen „autophagos“, „sich selbst verzehren“. Jetzt, da unser Körper nicht mehr mit der Verdauung und Verwertung von Nahrung beschäftigt ist, fangen unsere Körperzellen an, die Energie, die sie benötigen, aus Zellbestandteilen zu gewinnen, die veraltet oder funktionsuntüchtig geworden sind. Unser Körper verzehrt sich im Kleinsten selbst, um sich zu erneuern und die eigene Lebenszeit zu verlängern.
Was in uns, durch unseren Schöpfer angelegt ist, kann uns als Vorbild für unser äußeres Verhalten dienen. Im Ramadan haben wir die Gelegenheit, darauf zu blicken, was in unseren Gewohnheiten und Traditionen veraltet ist, seinen Zweck nicht mehr erfüllt und uns mehr belastet, als dass es uns zu mehr Glück und Zufriedenheit verhilft.
Im Ramadan haben wir die Möglichkeit, uns intensiv zu befragen, unsere eingeübten Verhaltensweisen zu überdenken und zu fragen, warum und zu welchem Zweck wir uns so verhalten, wie wir es das ganze Jahr über tun. Hat unsere Empörung im Alltag einen Nutzen? Trägt unser Verhalten anderen gegenüber dazu bei, dass wir uns wohler fühlen?
Fasten bedeutet nicht, ausschließlich auf Essen und Trinken zu verzichten. Es bedeutet auch, auf alles zu verzichten, was uns oder andere unglücklich macht. Dabei sollten wir gerade im Ramadan, gerade auch unsere Bräuche und Gepflogenheiten im Ramadan aufs Neue hinterfragen.
Für viele von uns bleibt der jährlich wiederkehrende Ramadan als Monat der Glücksmomente in Erinnerung: ein Tag voller innerer Einkehr und religiöser Rezitation, voller Besinnung und Kontemplation, ein Abend im Kreis der Familie und umgeben von Freunden, vor einer reich gedeckten Tafel mit allerlei Köstlichkeiten und einer immensen Vielfalt an Speisen. Dann eine Nacht mit der Moscheegemeinde beim Tarawih-Gebet. Frühe Morgenstunden, kurz vor Beginn der Morgendämmerung, im Beisein der verschlafenen Liebsten, die schnell noch etwas trinken und essen.
Es sind glückliche Erinnerungen an friedliche und ruhige Zeiten. Aber es sind auch männliche Erinnerungen. Es sind Beschreibungen eines Ramadan-Ablaufs, wie nur Männer ihn erleben. Die Realität des Ramadan für Frauen, die sich um eine Familie und deren Haushalt kümmern, sieht hingegen weniger besinnlich aus.
Zur Morgendämmerung stehen sie früher auf, um das letzte Mahl der Nacht zuzubereiten – falls jemand noch etwas Warmes essen will. Am Tag, während sie selber fasten, räumen sie die Wohnung auf, kümmern sich um die Kinder und sind nahezu die ganze Zeit bis zum Fastenbrechen damit beschäftigt, jedermanns Lieblingsspeisen zuzubereiten.
Häufig sehnt man sich zur Fastenzeit nach ganz bestimmten Gerichten – mit deren Zubereitung dann die Frauen in unseren Familien beauftragt werden. Sind auch noch Gäste eingeladen, muss es neben der Suppe mindestens zwei warme Speisen und mehrere kalte und warme Beilagen geben, damit die ungeschriebenen Regeln der Gastfreundschaft eingehalten werden: Wenn es keine Auswahl gibt, sind die Gäste einem nichts wert. Und wenn nichts übrig bleibt, war es nicht genug.
Während wir Männer uns mit Magenknurren und trockenem Mund zu Koranrezitationen zurückziehen können, stehen unsere Frauen, Mütter und Töchter im gleichen Zustand in der Küche – umgeben von garenden Speisen mit kräftigen, aromatischen Dämpfen, die in die Nase steigen. Da bleibt dann vielfach nur Zeit für ein Stoßgebet um mehr Kraft und Geduld.
In diesem Jahr wird es kaum Gelegenheiten dazu geben, Gäste zum Fastenbrechen zu empfangen oder in der Nacht die Wohnung zum Gemeinschaftsgebet zu verlassen. Das sind die besten Bedingungen für uns Männer, unser Verhalten im Ramadan zu hinterfragen und zu erneuern.
Lernen wir, eine einfache Suppe zu kochen. Lernen wir, ein unkompliziertes Gericht zuzubereiten, von dem die ganze Familie satt wird. Kümmern wir uns um den Abwasch und den Haushalt und entlasten damit unsere Frauen, Mütter und Töchter von den Pflichten, die wir viel zu bequem all die Jahre nur ihnen auferlegt haben, weil das traditionell schon immer so war.
Erneuern wir uns und unser Denken. Erkennen wir in diesem Ramadan, dass es keine „Frauenarbeit“ und keine „Männerarbeit“ gibt. Wenn Frauen als Ärztinnen und Krankenschwestern heute auf den Intensivstationen Leben retten, dann wird es uns Männern sicher auch gelingen, einen Teller Suppe auf den Tisch zu bringen. Wir müssen nur dazu bereit sein, den Ramadan mit all seiner Kraft zur Erneuerung auf uns wirken zu lassen – dann erleben wir vielleicht, wie neu und anders ein wirklich gemeinsam gelebter Ramadan sein kann.