Mehr als nur ein Virus

Was wir seit mehr als drei Wochen erleben, erschüttert unsere Wahrnehmung von Selbstverständlichkeiten. Wir hatten routinierte Tagesabläufe, alltägliche Gewissheiten, Pläne, wie unsere nächsten Wochen, Monate oder Jahre aussehen sollten.

All diese Vorstellungen von Normalität und Sicherheit sind nun als das erkennbar, was sie seit jeher gewesen sind – das Ergebnis unserer Verdrängung. Wir sind in Zeiten des Wohlstandes und der Zufriedenheit blind für die Natur unserer Umwelt und die Natur unseres Seins: Unser Reichtum ist auf Kosten und zum Nachteil anderer Menschen angehäuft. Und wir sind vergänglich.

Es bedarf keiner detailreichen Schilderungen, um die Natur unserer wirtschaftlichen Existenz zu beschreiben: Es genügt die geringste Abweichung vom Alltag, die behutsamste Andeutung von Gefahr und Not und schon sind wir dazu bereit, selbst bei banalsten und wertlosesten Dingen wie Toilettenpapier einander zu übervorteilen und uns auf Kosten des Nächsten zu bereichern.

Nichts anderes tun wir in den weltwirtschaftlichen Dimensionen unseres Handelns. Würde jeder Mensch auf der Erde den gleichen Anspruch auf Wohlstand durchsetzen wollen, den wir seit Generationen für uns reklamieren – selbst die Ressourcen dreier Erden würden nicht ausreichen, um diese Gier zu befriedigen. Aber an den angehäuften Milliarden stören wir uns nicht so sehr wie an angehäuftem Toilettenpapier.

Bekanntlich hat das letzte Hemd keine Taschen. Gleichwohl leben wir heute so, als würden wir niemals sterben. Aber ein Virus führt uns heute mit aller Wucht vor Augen, dass sich unsere Lebens- und Zukunftspläne in kürzester Zeit ins Nichts auflösen können.

All das kann uns entmutigen und verzweifeln lassen. Es verursacht ein Gefühl der Hilflosigkeit und der Machtlosigkeit. Als religiöse Menschen müssen wir uns dieser Tatsache stellen: alle Macht liegt bei Gott. Seinem Willen gegenüber sind wir machtlos. Es liegt in unserer menschlichen Natur, dieses Gefühl des Ausgeliefertseins nicht ertragen zu wollen. So üben wir täglich fünfmal bei der Verrichtung der Ritualgebete die Ergebenheit in einen Willen, der sich unserem Einfluss entzieht. Wir üben Demut.

Der Macht der tatsächlichen Ereignisse können wir nichts entgegenhalten. Wir können als einzelne Menschen die globale Ausbreitung eines Virus nicht vollständig beeinflussen. Die Eigenschaften eines Virus und seine Fähigkeit zur Mutation – und damit der Abschwächung oder aber der Verschlimmerung seiner Folgen – entzieht sich unserer menschlichen Kontrolle.

Wir können einzig und allein nur kontrollieren, wie wir auf diese neuen Umstände unserer Existenz reagieren. Manche von uns reagieren mit Verschwörungstheorien. Die aktuelle Krise macht ihren Hass auf andere Menschen sichtbar. Sie machen all jene, die sie zu hassen gelernt haben, verantwortlich für die Pandemie und ihre Folgen.

Andere wieder sind so sehr in ihrer bisherigen Sicht auf die Welt und die Menschen gefangen, dass sie Mutmaßungen darüber anstellen, zu welcher Niedertracht der Andere fähig sein könnte, sollte sich die Krise verschärfen. Erlittenes Unrecht verleitet diese Menschen dazu, dem Anderen alles zuzutrauen, nur nichts Gutes. Dabei verkennen sie, dass dieses kategorische Misstrauen doch der gleiche Nährboden ist, auf dem der selbst erlittene Hass und das selbst erlebte Unrecht gedeihen.

Andere wiederum wollen das Virus als Strafe Gottes erkennen. Als Strafe für alle, die nicht so glauben oder leben wollen wie sie selbst. Gerade aus muslimischer Sicht ist eine solche Denkweise besonders tragisch. Denn nach muslimischer Auffassung werden Adam und Eva nicht aus dem Paradies vertrieben und mit dem Leben auf der Erde für eine Sünde bestraft.

Die Herabsendung Adams auf die Erde ist vielmehr Ausdruck des göttlichen Vertrauens in seine Schöpfung. Adam und Eva sind unter allen Geschöpfen Gottes mit einem einzigartigen Verstand ausgezeichnet, der es ihnen ermöglichen wird, Gott trotz seiner Unsichtbarkeit und seiner Unvorstellbarkeit als mittelbare Manifestation in der gesamten Schöpfung zu erkennen.

Die Mächte der Natur, die Gesetzmäßigkeiten unserer Umwelt sind dazu da, von uns erforscht und erkannt zu werden. Wir können Naturkräfte mittels unseres Verstandes zum Wohle der Menschheit nutzen oder wir können sie unerforscht und unverstanden als übernatürliche Geißel missverstehen.

Wenn uns heute ein Virus vor scheinbar unlösbare Aufgaben stellt, liegt der Grund hierfür vielleicht auch darin, dass wir unseren Verstand und unsere Fähigkeiten mit anderweitigen Dingen beschäftigt haben. Wenn wir all die Kraft, die wir in die Erforschung der Frage investieren, wie wir einander am wirkungsvollsten vernichten können, besser in die Frage investiert hätten, wie wir einander am effektivsten heilen können, wären wir heute vielleicht nicht mit den dramatischen Folgen dieser Pandemie konfrontiert.

Das heute weltweit täglich Kinder an Hunger und Durchfall sterben, dass heute tausende Flüchtlinge aus Syrien an unseren europäischen Grenzen unermessliches Leid erleben und zusätzlich ohne Aussicht auf angemessene medizinische Behandlung dem grassierenden Virus ausgesetzt sind, liegt nicht an einem Gott, der begierig ist, uns zu strafen. Diese Verantwortung trifft allein uns, die wir dieser Not unserer Nächsten nur mit Gleichgültigkeit begegnen.

Was wir also kontrollieren können, ist unser eigenes Verhalten. Lassen wir unserer Gier und unserer Eigensucht freien Lauf? Spekulieren wir öffentlich über den Grad der Verachtung, mit der wir uns einander vielleicht begegnen, wenn sich die Situation verschlimmert? Wird sich in der Not jeder selbst der Nächste sein?

Oder erinnern wir uns an das Gute unserer Natur? Kümmern wir uns umeinander? Sind wir zu persönlichen Entbehrungen bereit, damit die Not anderer gelindert werden kann? Helfen wir jenen, die sich nicht wochenlang in die eigenen vier Wände zurückziehen können, weil sie keine eigenen vier Wände haben und auch nicht wissen, wie sie die Miete für die fremden Wände aufbringen sollen, weil sie kein Geld mehr verdienen können?

Werden wir uns, wenn die Pandemie irgendwann überwunden sein wird, daran erinnern, dass wir Menschen, die einen geringen Lohn bezahlt bekommen, als „sozial Schwache“ bezeichnet haben, obwohl sie in dieser Krise tagtäglich beweisen, dass sie nur finanziell schwach aber sozial unermesslich stark sind? Und werden wir dann an ihrer finanziellen Situation etwas ändern?

Werden wir all die Menschen, die durch die Krise ärmer werden, wieder der Dekadenz und der Nutzlosigkeit bezichtigen? Oder werden wir endlich einsehen, dass Armut kein Verbrechen ist und begreifen, dass Sozialleistungen Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität sind und keine Almosen.

Und ganz konkret wir Muslime: Werden wir erkennen können, mit welchen Beiträgen wir auf die neuen Herausforderungen unserer Gesellschaft am besten reagieren? Werden wir erkennen können, dass wir angesichts der Veränderungen, die uns alle erwarten, nicht unbedingt Ratschläge zur Hygiene nach dem Stuhlgang benötigen? Aber vielleicht zu der Frage, ob Vermögende nicht jährlich ein Vierzigstel ihres Vermögens den Bedürftigen jener Gesellschaft zurückgeben sollten, aus der sie ihr Vermögen geschöpft haben?

Das Virus, das heute unsere Lungen befällt, wird auch sichtbar machen, welche anderen Viren schon seit Langem unser Gewissen befallen haben. Während wir auf das Heilmittel gegen das eine, akut bedrohliche Virus warten, müssen wir erkennen, dass der Wirkstoff gegen die anderen Viren in unserem konkreten Verhalten liegt. Und dafür ist jeder selbst verantwortlich. (mk)