Das Coronavirus bestimmt nun auch unseren Alltag. Zunächst waren wir nur Beobachter. Wir dachten, dass uns diese Gefahr nicht treffen würde, als in China bereits Millionen Menschen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Wir Menschen realisieren eine Gefahr erst, wenn wir unmittelbar davon betroffen sind. All das, was für uns normal und alltäglich ist, gerät jetzt plötzlich ins Wanken.
Das Virus, die Krise, die Reaktionen, sie verändern uns auf ungeahnte Weise. Unser Blick auf das Leben, unsere Wahrnehmung von Normalität, unsere gewohnten Reflexe, alles versagt. Viele Weichen in unseren Köpfen werden wir neu stellen, viele Pfade verlassen und neu anlegen müssen. Es gibt Vieles, worüber wir nach den Erfahrungen und dem Umgang mit dem Coronavirus reflektieren müssen, auch innerhalb unserer muslimischen Community.
Eine existenzielle Bedrohung wie das Coronavirus wird derzeit nicht nur von Rechtspopulisten und Nazis für ihre politische Agenda missbraucht. Auch türkische Identitäre und vermeintliche Islamgelehrte bedienen in diesen schwierigen Zeiten die absurdesten Verschwörungstheorien und einen Antisemitismus. Um vom eigenen Versagen und den zu späten Vorkehrungen abzulenken, sprechen manche Muslime von einer „biologischen Kriegsführung“ der USA oder Israels oder schwadronieren von einem Coup der Banken und meinen damit die „jüdische Finanzlobby“.
Diese Stimmen kann man nicht einfach als krude Aussagen von einzelnen Verwirrten abtun. Sie bekommen in türkischen, arabischen oder iranischen Medien sehr viel Raum, so dass sich diese gefährlichen Narrative in den Köpfen der Bevölkerung festsetzen. In solchen extremen Situationen zeigt sich wieder, wie Extremisten jeglicher Couleur sich ähnlicher sind, als viele von uns denken. Trotz der gegenseitigen Feindseligkeiten nutzen sie existenzielle Bedrohungslagen wie die jetzige aus, um ihre Feindbilder und Ressentiments unter das Volk zu bringen.
Deswegen ist es gerade jetzt wichtiger denn je, solchen gefährlichen Narrativen überall dort, wo man mit diesen konfrontiert wird, unmissverständlich entgegenzutreten, um dadurch die menschliche Solidarität, die wir jetzt dringender denn je benötigen, zu verteidigen. Wir müssen gerade in Notsituationen wie diesen deutlich machen, dass wir füreinander da sind, unabhängig davon, welchen Glauben oder welche Herkunft wir haben.
Gerade die Jüngeren unter uns tragen eine große Verantwortung für die besonders gefährdeten älteren Menschen unter uns. Wir müssen unseren älteren Nachbarn, Verwandten und Bekannten Hilfe anbieten, wenn es um alltägliche Dinge wie den Einkauf geht. Aber die Jüngeren unter uns müssen auch – trotz des guten Wetters – darauf achten, die sozialen Kontakte auf das Nötigste zu reduzieren.
Auch wenn die Krankheit für die Jüngeren nicht so gefährlich ist, so können sie jedoch die Älteren und andere Risikogruppen damit anstecken. Jeder von uns trägt eine große Verantwortung dafür, dass die Krankheit sich nicht weiterverbreitet. Schon unser Prophet Muhammad, Allahs Segen und Frieden auf ihn, sagte über ansteckende Krankheiten und Quarantäne: „Führt keinen Kranken zu einem Gesunden.“ (Al-Bukhari 5770)
Solidarität, Menschlichkeit, Verantwortung und Fürsorge heißt, sich nicht von jenen beeinflussen zu lassen, die aus Fahrlässigkeit oder böser Absicht, bewusst oder unbewusst Verschwörungstheorien verbreiten, und damit die Gefahr verharmlosen. Lassen wir uns nicht von ihnen vergiften, sondern helfen wir unseren Nächsten, die in diesen schwierigen Zeiten auf Hilfe angewiesen sind. (eg)