In unserer lauten Gegenwart ist einer der großen Vorzüge der gelebten Religion, dem Menschen Orte und Zeiten der Ruhe zu gewähren. Gezwungenermaßen kommt der gestresste Karrieremensch fünfmal am Tag im Gebet zur Ruhe. Doch der äußere ‚Zwang’ des Pflichtrituals erweist sich dem Betenden schnell als innere Gnade, und das nicht nur im Sinne einer Verschnaufpause, in der man seine aufgezehrten Energiereserven regeneriert. Die Ruhe selbst ist ein Schlüssel zu einer starken Beziehung zu unsrem Herrn und einem lebendigen Glauben, der über die äußeren Schichten des Intellekts hinausgeht und in den Kern unsres Wesens einsinkt.
Allah versichert uns im Koran: „Wahrlich, Wir erschufen den Menschen, und Wir wissen, was er in seinem Innern hegt; und Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader.“ (50:16) Wir erfahren aus diesem Vers, dass die Nähe Gottes nichts ist, was erst von uns hergestellt oder bewirkt werden müsste. Sie ist stets schon da. Wir müssen sie nur vor uns selbst enthüllen, sie sozusagen aktualisieren. Und genau hier kommt der Wert der Ruhe ins Spiel. Solange wir uns wie wild in unserer Religiosität aufplustern und durch spirituellen Aktionismus versuchen, Gottes Nähe zu erzwingen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn er uns verborgen bleibt. Gerade, weil Gott für uns das absolut Unverfügbare ist, führt der einzige Weg zu ihm über das Nicht-Verfügen-Wollen, über ruhige Hingabe.
Ruhige Hingabe führt dazu, dass Herzen zu Ruhe kommen. „Wahrlich, im Gedenken Gottes finden die Herzen Ruhe“ (13:28), sagt uns Gott im Koran. Diese Ruhe hat etwas ungemein Befreiendes, da sie uns von unserem weltlichen Getriebensein erlöst. Wir dürfen rasten, wir dürfen unsere Seelen erfrischen an der überfließenden Göttlichen Barmherzigkeit.
Als Menschen der heutigen Zeit erschweren uns jedoch einige Blockaden den Zugang zu diesem Zustand. Deswegen sollten wir versuchen, unsere Fähigkeit zur Ruhe aktiv zu pflegen und zu entwickeln. Etwa müssen wir die Vorstellung aus unserem Kopf bekommen, dass Nichtstun ein Laster sei. Die Verachtung für das kontemplative Leben der „faulen Mönche“ steckt tief in den Knochen des modernen Denkens. Dabei gibt es, bei Lichte betrachtet, nichts, womit wir unsere Bestimmung als Geschöpfe Gottes mehr erfüllten, als durch Gottgedenken. Eine starke, feste, ruhige Beziehung zu Allah zu haben ist der größte „Erfolg“, der uns zuteilwerden kann. Daher gibt es eigentlich nichts Absurderes, als beim Gedenken Gottes das Gefühl zu haben, irgendwelche wichtigeren weltlichen Dinge zu verpassen und sich für die eigene Untüchtigkeit zu schämen. Leider ergeht es jedoch vielen immer wieder genau so – nicht zuletzt auch dem Autor dieser Zeilen.
Daher hier ein paar Ratschläge, wie man eine religiöse Kultur der Ruhe in seinen Alltag integrieren kann, ohne ständig auf heißen Kohlen zu sitzen:
1) Zunächst einmal muss man verstehen, dass Ruhe und Konzentration zwei ganz unterschiedliche Sachen sind. Die Selbstoptimierung, die einem Life-Coachs heutzutage gerne als Lösung für alle Probleme andrehen wollen, läuft meist eher auf erhöhte Konzentration und Anspannung hinaus. Die Ruhe ist dann nur Mittel zum Zweck, ein Kräftesammeln, um nachher noch mehr Leistung zu erbringen. Religion ist aber weder Sport noch Karriere, bei denen man stumpf Leistungspunkte ansammelt. Wir sind nicht die Angestellten Gottes, sondern Seine Diener.
2) Anstatt sich also auf neumodische Ratgeberliteratur zu verlassen und ein bisschen Feng-Shui mit ein bisschen Meditation und ein bisschen Self-Love zu kombinieren, sollte man sich lieber auf die klassischen Praktiken der Ruhe aus unserer Tradition besinnen. Dazu gehört etwa das zurückgezogene Koranrezitieren, das Gedenken Gottes in längeren Phasen des Dhikrs, und natürlich das Gebet in der Nacht.
3) Bei alle dem hilft es, das Handy und andere Geräte auf lautlos zu stellen oder am besten sogar außer Reichweite zu bringen. Entweder werden wir ständig durch eingehende Nachrichten abgelenkt, oder aber wir greifen beim Anflug der ersten Langeweile reflexartig zum Handy, um auf irgendeine Weise die Zeit totzuschlagen. Damit jedoch laufen wir Gefahr, eine Trennwand der Unruhe zwischen uns und Gott zu errichten, ein ständiges Rauschen, das uns die stets schon existierende Nähe Gottes „überhören“ lässt.
4) In Zeiten der gesteigerten Unruhe, etwa bei Streitereien und Diskussionen, können wir den Wert des Schweigens neu entdecken, so wir nicht wirklich etwas Wichtiges und Gutes vorzubringen haben. Der Prophet sagte, Allahs Segen und Frieden auf ihn: „Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, der soll entweder Gutes („Khaiyran“) sprechen, oder schweigen.“ (u. a. Bukhari) Die Aufforderung zum Schweigen wirkt auf unser modernes Ohr zunächst etwas barsch. Doch ist sie hier keineswegs abwertend gemeint. Im Schweigen liegt eine tiefere Weisheit, da es eine Grundhaltung des auf die Nähe Gottes horchenden Muslims ausdrückt. (lsj)