“Wenn ihr nicht glaubt, kommt ihr nicht ins Paradies und ihr glaubt nicht, solange ihr euch nicht gegenseitig liebt”, lautet ein Ausspruch, ein Hadis des Propheten. Es ist ein Aufruf zu mehr Empathie und Zuneigung unter den Gläubigen. Ein Aufruf der in der Forderung nach Nächstenliebe soweit geht, die Existenz des Glaubens an Allah an das Vorhandensein dieser Liebe zu verknüpfen. Auch wenn der Wortlaut des Hadises diesen auf die Beziehung zwischen den Gläubigen zu beschränken scheint, bin ich mir sicher, dass der Sinn dahinter weit über die Glaubensgrenze hinausgeht und eine grundsätzliche menschliche Eigenschaft formuliert.
Der Hadis wird von Abu Huraira überliefert, stammt somit aus den letzten Jahren des Wirkens des Propheten. Liest man ihn in einem Zusammenhang mit zahlreichen anderen Hadisen und Versen aus diesen letzten Jahren, so wird man erkennen, dass diese Botschaften zwar gegenüber der Gemeinde und Gläubigen in Medina getätigt werden, sich aber ganz besonders an die gesamte Menschheit als Botschaft des Islam und Erbe des Propheten richten.
Der Hadis verknüpft solch ein zentrales Element wie den Glauben an Allah an die Liebe gegenüber Menschen. Er fordert zu Empathie, zu Mitgefühl auf. Er erwartet eine Reife im Menschsein, die weit über das Tolerieren oder Respektieren des Anderen hinausgeht. Er gibt uns einen Maßstab der Menschlichkeit, mit dem uns auch in diesen schwierigen Zeiten der Ohnmacht, der Trauer aber auch des berechtigten Zorns der zu nehmende Pfad beleuchtet wird.
Der versuchte und elhamdulillah, Allah sei Dank, erfolglose Anschlag auf die Synagoge in Halle, auf die dort betenden jüdischen Gläubigen ist kein Ereignis, bei dem wir als beobachtende Dritte an der Seitenlinie stehen können. Nicht wenige von uns haben sich schmerzlich an den Anschlag in Christchurch erinnert. Aber auch ohne dieses nur Monate zurückliegende Morden an unschuldigen muslimischen Gläubigen sollte unsere Liebe für den Anderen genug sein, um mitzufühlen, um die Sorgen der Betroffenen als Eigene wahrzunehmen, diese im eigenen Herzen zu spüren.
Es reicht jedoch nicht, nur Empathie zu fühlen, Sorgen verbal zu teilen. Liebe für den Anderen geht weiter. Sie erfordert Beistand und Unterstützung. Ich erinnere mich noch an die Blumen, die nach Christchurch vor Moscheen gelegt wurden, an jedes warme Wort der Unterstützung, an jeden mitfühlenden Menschen, der bei Freitagsgebeten sich vor eine Moschee stellte oder sich zu den Betenden in der Moschee begab. Ich erinnere mich an die Stärke, die jede dieser Gesten in die muslimische Gemeinschaft ausgestrahlt hat, bei aller Verzweiflung und Sorge uns Muslimen Kraft gegeben hat.
Nun liegt es an uns, diese Stärker weiterzugeben an unsere jüdischen Brüder und Schwestern. Es liegt an uns, nicht nur mit unseren Worten, sondern noch viel mehr mit unserem Handeln an ihrer Seite zu stehen. Dazu gehört es, an den Mahnwachen gegen diesen Terror sowohl als Gemeinden als auch als muslimische Individuen teilzunehmen. Und es gehört noch viel mehr dazu, bei jüdischen Gemeinden in unserer Umgebung nachzufragen, ob und was man für sie oder mit ihnen zusammen tun kann.
Diesmal sind wir es, die nun schützend vor der Tür der Synagoge stehen und die Worte aussprechen sollten, die wir in dem Freitagswort zu Christchurch damals als Hoffnung formuliert haben:
„Schaue nach vorn, meine Schwester, mein Bruder, ich bin hier. Hier bin ich und stehe dafür, dass Du nach vorne schauen kannst. Hier bin ich und stehe dafür, dass Du sicher beten kannst, sicher leben kannst. Hier bin ich und stehe mit Dir, gegen den Hass, gegen diese Niedertracht, hier direkt vor der Tür, damit Du nicht nach hinten blicken musst. Vertraue mir, und schaue nach vorn.” (ek)