Ein Gastbeitrag von Pfarrerin Dr. Gerdi Nützel
In der kommenden Woche jährt sich der Jahrestag des 11. Septembers 2001, ein markantes Datum für die Beziehungen der Menschen unterschiedlicher Religionen. Als Huntington Mitte der 90er Jahre vom Clash der Zivilisationen und Religionen sprach, wurde er von vielen belächelt oder auch verspottet. Der Fall der Mauer in Berlin, die globalen Bewegungen und Begegnungen von Menschen, Ideen, Kulturen und Religionen schienen selbstverständlich. Wobei der Krieg im inzwischen ehemaligen Yugoslawien schon eine erste Anschauung geboten hat, wie schnell sogar ehemalige Nachbarinnen und Nachbarn bereit sind, einander auf brutale Form zu vertreiben oder sogar zu töten, wenn auf einmal die religiöse oder ethnische Abstammung das Kriterium für das Lebensrecht an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit darstellt.
Wie aber kommen wir aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt heraus, wenn wir als Menschen aus den verschiedenen Religionen und Kulturen Schritte auf dem Weg des Friedens gehen wollen?
Ein Gedicht der jüdischen Lyrikerin Hilde Domin, die selbst nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ins Exil nach England und dann in die Karibik gehen musste und nach vielen Jahren des Exils wieder nach Deutschland zurückkehrte, ermutigt uns mit der Erinnerung an die Gewaltgeschichte zwischen den Kindern des ersten Menschenpaares Adam und Eva, die uns in den abrahamitischen Religionen sehr vertraut ist. Im Koran hören wir von ihr in den Versen 29 bis 35 der Sure 5. Sie endet in Vers 35 so: „Aus diesem Grund haben wir den Kindern Israels verordnet, dass wer eine Seele ermordet, soll sein wie einer, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wenn einer ein Leben erhält, soll es sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten.“
Hilde Domin drückt dies in ihrem Gedicht „Abel steh auf“ in einem Appell an Abel aus: Dort heißt es:
„Abel steh auf / es muss neu gespielt werden / täglich muss die Antwort noch vor uns sein / die Antwort muss ja sein können / wenn du nicht aufstehst Abel / wie soll die Antwort / die einzig richtige Antwort sich je verändern / wir können alle Kirchen schließen / und alle Gesetzbücher abschaffen / in allen Sprachen der Erde / wenn du nur aufstehst / und es rückgängig machst /die erste falsche Antwort / auf die einzige Frage / auf die es ankommt / steh auf / damit Kain sagt / damit er sagen kann / Ich bin dein Hüter / Bruder / wie sollte ich nicht dein Hüter sein / Täglich steh auf / damit wir es vor uns haben / dies Ja, ich bin hier / ich / dein Bruder.(…) Abel steh auf / damit es anders anfängt / zwischen uns allen.“
Als interreligiöse Friedensinitiative „Religionen auf dem Weg des Friedens“ erinnern wir seit dem 10. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 jedes Jahr an die Opfer der damaligen Anschläge aber auch an die Opfer der nachfolgenden militärischen Auseinandersetzungen, die bis heute andauern. Zugleich gibt es in jedem Jahr den Hinweis auf eine aktuelle oder historische Erfahrung, wie Menschen aus verschiedenen Religionen aufgestanden sind, damit es anders wird zwischen uns allen. In diesem Jahr 2019 werden wir an die friedliche Begegnung zwischen Franziskus und Sultan Al-Kamil Muhammad al-Malik vor genau 800 Jahren im Jahr 1219 erinnern. Während des 5. Kreuzzuges, zu dem Papst Innozenz III. mit dem Ziel der Befreiung Jerusalems von den Muslimen aufgerufen hatte, machte Franziskus in einer Gefechtspause bei der im Nildelta gelegenen Stadt Damiette auf eigene Gefahr zum Lager der Muslime auf und es kam zu einer dialogischen Begegnung zwischen den beiden, in der der gemeinsame Glaube an Abraham eine wichtige Rolle spielte. Eines der Resultate war die bis heute bestehende Anweisung in den Regeln des Franziskanerordens, dass Menschen anderen Glaubens mit Respekt und Demut zu begegnen ist und dass Glaubensgespräche erst dann beginnen sollen, wenn die andere Seite Interesse zeigt und die Atmosphäre dies als sinnvoll erscheinen lässt. Auch die besondere Achtung für das Wort Gottes, die er bei den Muslimen im Umgang mit dem Koran erlebt hatte, nahm er aus dieser Begegnung mit. Und besonders wichtig wurde seine Einsicht, dass die Begegnung mit Christus nicht vom Weg nach Jerusalem abhängig ist, sondern überall vor Ort im Herzen der Gläubigen stattfinden kann. Die Krippen in christlichen Familien und Häusern in der Weihnachtszeit, die ihren Ursprung in der Erfindung des Krippenspiels 1223 durch Franziskus haben, sind eine Folge dieser Einsicht bis heute. Und die Geschichte ging auch damit weiter, dass die Franziskaner bis heute eine besondere Beziehung zum Islam pflegen. Im Jahr 1463 nahmen sie Sultan Mehmet in ihrem Kloster in Istanbul auf und der Sultan gewährte ihnen durch einen Vertrag Religionsfreiheit.
Die Erinnerung an diese Schritte religiöser Menschen auf dem Weg des Friedens stärkt auch im Jahr 2019 am 11. September unsere Hoffnung, dass es – wie Hilde Domin sagt – gilt aufzustehen, damit es anders wird zwischen uns allen. Und damit wir diese Botschaft auch in alle Welt versenden können, gibt es im Oktober eine Sonderbriefmarke, die an die friedliche Begegnung zwischen Franziskus und dem Sultan im Jahr 1219 erinnert. Am 11. September werden wir – wie in den vergangenen Jahren seit 2011 – abends um 18.00 Uhr auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor in Berlin an diese Begegnung erinnern und zu kurzen Begegnungen zwischen Menschen aus verschiedenen Religionen an Ort und Stelle einladen. Alle, die dabei mitmachen wollen, sind herzlich willkommen!