Unsere Gegenwart ist geprägt von der Faszination, die unsere Möglichkeiten uns vermitteln. In dem Ausmaß, in welchem wir das Spirituelle, das buchstäblich Unbegreifbare, das Nichtkörperliche, das Transzendente aus unserem Leben und unserer unmittelbaren Orientierung verdrängt haben, in dem Maße hat das Körperliche, das Materielle, die Anhäufung des Konkreten Bedeutung für und in unserem Leben eingenommen.
Wir haben uns von der Vorstellung entfernt, dass die Belohnung im Jenseits uns in der Gestalt des Überflusses an Erkenntnis und Wissen versprochen wird. Sinnbildlich spricht der Koran von der Quelle Kevser, aus der wir unendliche Male werden schöpfen dürfen. Das Bild des auch dann nicht wirklich greifbaren, des fluiden und verrinnenden Wassers ist uns zu einer Zumutung geworden.
Wir neigen dazu, dieses Versprechen zu ersetzen in der Anhäufung materieller Güter, des Kesret. Im Diesseits vermittelt uns materieller Reichtum, der Zugriff auf immer mehr Güter und dinglicher Möglichkeiten das Gefühl von Befriedigung und Glück. Die Flüchtigkeit, die wir dem körperlosen Versprechen von Erkenntnis selbst in dem Bild der Wasserquelle sprachlich zuschreiben, können wir nicht auf die Vergänglichkeit materiellen Reichtums übertragen.
Denn das possessive Moment materieller Anhäufung, die buchstäbliche Inbesitznahme dessen, was uns an dinglichen Gütern umgibt, bestärkt uns in dem Gefühl, dass wir uns über das erheben, was uns umgibt. Dieses Gefühl hat viel mit Kontrolle zu tun. Wir bemächtigen uns nicht nur der materiellen Güter, aus denen wir Reichtum generieren. Wir übertragen diese Inbesitznahme auch auf andere Menschen.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass unser Reichtum die Armut anderer Menschen zur Folge hat, ja zur Bedingung hat. Wir rechtfertigen mit Gedanken der zivilisatorischen, kulturellen oder gar biologistischen Überlegenheit, dass wir auf Kosten anderer Reichtümer anhäufen. Diese Macht, dieser Anspruch auf Kontrolle erstreckt sich auch auf unser unmittelbares Umfeld.
Die gesellschaftliche Kontrolle über den weiblichen Körper erhalten wir aufrecht durch die Vorstellung von Ungleichwertigkeit. Damit rechtfertigen wir die Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen in vielen Bereichen unseres sozialen Lebens.
Die Kontrolle über die Vorstellung von Männlichkeit erhalten wir aufrecht durch die Stigmatisierung von Menschen, die eine andere sexuelle Identität für sich reklamieren, als wir es ihnen in der von uns akzeptierten Dualität zusprechen wollen.
Die Kontrolle über den Zugriff auf natürliche Ressourcen legitimieren wir durch eine kulturhistorisch tief verankerte Vorstellung von Besitzansprüchen auf die Natur. Aber wenn wir die islamische Offenbarung aufmerksam lesen, müssen wir feststellen, dass ihr der Gedanke der Herrschaft des Menschen über die Natur, über die Schöpfung fremd ist. Die Schöpfung ist dem Menschen nicht Untertan, so wie der Mensch nicht der Herrscher und Gebieter über die Natur sein kann.
Die islamischen Quellen beziehen sich nicht auf den Gedanken des Eigentums, des Besitzes und damit der Verfügungsgewalt und der Kontrolle über die Natur. Sie gehen vielmehr von einem Verhältnis des befristeten Nießbrauchs aus. „Bittet euren Herrn um Vergebung, hierauf wendet euch Ihn in Reue zu, so wird Er euch einen schönen Nießbrauch auf eine festgesetzte Frist gewähren und Er wird jedem, der voll Huld ist, Seine Huld gewähren.“(Sure 11, Vers 3)
Die Schöpfung ist eine uns anvertraute Leihgabe, mit der wir sorgsam umzugehen haben. Sie ist uns von früheren Generationen übertragen worden, so wie wir sie an nachfolgende Generationen weitergeben. Wir sind nicht Eigentümer oder Besitzer. Wir sind lediglich Sachwalter.
Wenn wir von dem Gedanken ausgehen, dass die Schöpfung dem Menschen dient, dann höchstens in dem Sinne, dass sie zur Mahnung dient, dass sie zur Anschauung dient, um dem Menschen mittelbar das Wirken seines Schöpfers kundzutun. „Gewiss, in der Schöpfung der Himmel und der Erde und der Verschiedenheit von Nacht und Tag sind zweifelsohne Zeichen für die Verständigen. Diejenigen, die über die Schöpfung der Himmel und der Erde nachdenken und über die Erschaffung der Himmel und Erde sagen: Unser Herr, du hast all dies nicht umsonst erschaffen.“ (Sure 3, Vers 190-191)
Und dort, wo der Mensch nicht pflegend, nicht bewahrend, sondern vertilgend in diese Schöpfung eingreift, hat er sich die Nähe seines Schöpfers zu vergegenwärtigen. „So sprecht den Namen Allahs über sie aus, wenn sie mit gebundenen Beinen dastehen. Wenn sie nun auf die Seite umgefallen sind, dann esst davon und gebt dem bescheidenen und dem fordernden Armen zu essen. So haben Wir sie euch dienstbar gemacht, auf dass ihr dankbar sein möget. Weder ihr Fleisch, noch ihr Blut werden Allah erreichen, aber Ihn erreicht eure Gottesfurcht. So hat Er sie euch dienstbar gemacht, damit ihr Allah als den Größten preist, dass Er euch richtgeleitet hat. Und verkündet frohe Botschaft denen, die gutes tun.“ (Sure 22, Vers 36-37)
Uns scheint diese Forderung veraltet, Teil einer archaischen Haltung oder sinnentleerte rituelle Nostalgie zu sein. Doch fragen wir uns, in welcher Welt wir leben würden, wenn jeder von uns das, was er vertilgt, nur in Demut und Anrufung Gottes der Schöpfung entreißen dürfte? Wie wäre es, wenn jeder von uns das Leben eines Tieres eigenhändig nehmen müsste, um dessen Fleisch verzehren zu dürfen. Und wenn er das Fleisch nur dann verzehren dürfte, wenn er es mit Bedürftigen teilt?
Lebten wir dann in einer für uns gesünderen Welt? Wäre das Leid unserer Mitgeschöpfe größer oder geringer als in unserer Gegenwart, wo uns angesichts des Fleisches geschlachteter Tiere keine Gottesfrucht mehr befällt, sondern höchstens noch die Furcht, ob das Kilo Hack im Geschäft um die Ecke nicht doch billiger zu haben ist?
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der Überfluss, mit dem wir uns umgeben, uns nicht davor bewahren wird, diese Welt so zu verlassen, wie wir sie betreten haben – nämlich mit Nichts. Die Frage, die sich für uns daran anschließt, ist die Frage danach, wie wir die befristete Zeit nutzen, die wir innerhalb dieser Schöpfung verbringen dürfen. In Zeiten, in denen wir Menschen sterben lassen, um unsere angehäuften Reichtümer nicht mit ihnen teilen zu müssen, scheinen wir auf diese Frage noch keine vernünftige Antwort gefunden zu haben. (mk)