Ein Gastbeitrag von Sercan Sever
Was überhaupt ist eigentlich ein gutes Leben?
Diese Frage beschäftigt nicht nur uns, sondern Menschen rund um den Globus. Nicht selten verführt sie zur Auflistung eines ganzen Kriterienkatalogs, wonach ein gutes Leben gegeben sei, wenn a), b) c) und bestenfalls auch d) in unserem Besitz sind oder als auf diesem Weg zu erreichende Ziele festgelegt werden.
a), b), c) und d) können je nach Zeit und Ort mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden. In hiesigen Verhältnissen stehen nicht selten Karriere, Gemeinschaft und Gesundheit weit oben auf dieser Liste. Doch der Charakter ist stets derselbe: Das gute Leben oder das Glück scheint uns erst dann so richtig gegeben, wenn jene Kriterien erfüllt, jene Ziele erreicht sind. Und so trachten wir danach dieses gute Leben zu erreichen.
Das mag plausibel klingen, und doch zeichnen unsere wirklichen Erfahrungen und das, was wir den Überlieferungen entnehmen können, ein anderes Bild; ja, eigentlich gar eine andere Frage zum Leben, nämlich die nach dem gelingenden Leben: Ein gelingendes Leben ist nämlich ein Leben im Dienst an Allah, und ein daraus resultierender Dienst an den Menschen wie prophetische Überlieferungen deutlich zeigen:
„Der Beste unter den Menschen ist derjenige, der seinen Mitmenschen am nützlichsten ist.“
Es ist nicht die Rede vom Erreichen bestimmter Meilensteine, die das Paradies auf Erden versprechen, sondern klare Aufforderungen, die zum resonanzorientierten, gelingenden Leben führen, weil der Schöpfer damit zufrieden ist und Sich durch die Dinge dem Menschen auf eindringliche Weise zeigt.
Viel Geld verdienen, viele Freunde fürs Leben finden und gesund sein sind nichts, was das Leben per se gut werden lassen, sondern erst eine bestimmte Geisteshaltung im Umgang mit diesen Dingen in Bezug auf Allah und Seine Geschöpfe lassen das Leben in der Tat auch gelingen, ganz gleich welche anderweitigen Kriterien (nicht) erfüllt sind. Anders gesagt: Unter diesen Umständen hat vielleicht jemand, der krank, alleine und arm ist kein gutes Leben, aber dennoch kann ihm sein Leben gelingen – mehr noch als jemandem, der die Kriterien a) – d) erreicht hat.
Hartmut Rosa spricht auch von der Weltbeziehung als Resonanzbeziehung: da, wo der Mensch vorurteilsfrei bereit ist seine Erfahrung in den Vordergrund zu stellen und sich einer individualistischen Akkumulationslogik, soll heißen „mehr ist gleich besser“, zu entziehen, da beginnen die Dinge der Welt, denen er begegnet, ihm zu antworten, und mehr noch: ihn zu ergreifen. Peter Sloterdijk macht ebenfalls nicht grundlos das Hören als die Wesensfähigkeit der Seele aus: Die Seele empfängt das, was die Dinge ihm mitzuteilen haben und tritt so in eine Antwortbeziehung mit ihnen.
Was bedeutet das für die Eingangsfrage und für uns als Gläubige? Es bedeutet, dass das Leben im Augenblick, in der aktuellen Gegenwart – unsere aufgeschlossene eigene Präsenz also – uns die einzig wahrhaftige Präsenz des lebendigen Schöpfers Gewahr werden lassen kann und unsere Seele hierdurch in Bewegung gesetzt wird – von Dem, Der schließlich alles in Bewegung setzt.
In dieser Gemütsbewegung – dies bedeutet der lateinische Ausdruck „Emotion“ eigentlich – spüren wir unsere formale Existenz erst als Leben. Das bezieht sich auf jegliche Begegnung des Menschen in der Welt. Insbesondere trifft das auch auf unsere Gebete zu: Nicht das Voraburteil von einem frommen Gebet sollte bestimmend sein für unsere tatsächliche Erfahrung des Gebets. Der Gläubige sollte sich eher unter völliger Präsenz im Gebet leeren und lediglich bereit sein zu empfangen und aufzunehmen, um tatsächlich die Chance auf ein andächtiges Gebet zu bekommen. Andernfalls droht Selbstbetrug oder gar – zumeist deprimierender – Enttäuschung.
Damit letztlich aber nicht Enttäuschung breit wird, sondern wir in einen wirklichen Genuss der Allgegenwärtigkeit Allahs kommen, sollten wir versuchen unter einer vergegenwärtigten Geisteshaltung nach den prophetischen Anweisungen zu leben, die in jedem Falle zum gelingenden Leben führen, weil sie bei Befolgung unsere Existenz in Leben umformen und wir so den schönen Schöpfer aller Dinge, Der Sich in ihnen spiegelt, wahrnehmen.
In diesem Zusammenhang spitzt Shakespeares Hamlet nur noch folgerichtig zusammen: Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Nicht tun und machen sind des Pudels Kern, sondern zunächst s e i n.
Möge Allah uns diesen feierlichen Anlass des Freitags, dem Fürsten der Tage wie es in einer prophetischen Überlieferung heißt, als Anlass genug erkennen lassen ein lebendiges Sein an den Tag zu legen, sodass unser Leben im Dienste für Ihn und die Geschöpfe im höchsten Genuss gelingen kann.