Die nicht enden wollenden Debatten über die islamische Glaubenspraxis und Muslime geht nicht spurlos an uns Muslimen vorbei. Wie sollte dies auch, denn natürlich berührt uns Muslime die Infragestellung unserer Glaubensgrundlagen. Im sogenannten Islamdiskurs haben wir es nicht selten mit Panikmachern zu tun, die unsere Glaubenspraxis und Glaubensinhalte als feindliche Ideologie darstellen wollen. Wir Muslime weisen dann aus Reflex auf Andalusien, den indischen Subkontinent oder andere wichtige historische Kapitel hin, in denen Muslime Hochkulturen geschaffen haben, die einen wichtigen Beitrag für Wissenschaft, Philosophie und Kunst geleistet haben.
Ambiguitätstoleranz ist dabei ein gern verwendeter Begriff von uns Muslimen, um darauf hinzuweisen, dass Muslime in ihrer Geschichte andersdenkende Menschen und Andersgläubige respektiert und ihnen Freiheiten garantiert haben. So berechtigt die Zurückweisung der Panikmacher, die aus dem Islam eine Ideologie machen wollen, sein mag, müssen wir Muslime auch aufrichtig sein. Inwiefern spiegelt der inflationäre Gebrauch des Begriffs Ambiguitätstoleranz unseren Zustand im Hier und Heute wieder? Man kann aus der Geschichte der Muslime in Andalusien oder anderen wichtigen Zentren der islamischen Gelehrsamkeit sehr viel lernen und Lehren für unsere Gegenwart ziehen, ohne Zweifel.
Wenn wir aber unsere Realität heute anschauen, dann sehen wir auch unter uns Muslimen Panikmacher, die zwar von der Blütezeit des Islam, der bunten Vielfalt innerhalb der muslimischen Gelehrsamkeit und den theologischen Diskursen schwärmen, aber diese in ihrer eigenen Realität kaum bis gar nicht praktizieren. Sobald eine Muslimin oder ein Muslim einen Gedanken äußert, der sich nicht mit dem eigenen Denken deckt, tendieren so manche muslimische Aktivisten dazu, diesen Muslimen vorzuwerfen, Nichtmuslimen nach dem Mund zu reden. Von einer Ambiguitätstoleranz, die man ansonsten im öffentlichen Diskurs so sehr betont, ist dann plötzlich nicht mehr viel übrig.
Diese Reaktionsmuster haben in erster Linie mit einer fehlenden Souveränität und einem schwachen Selbstbewusstsein zu tun. Jede innermuslimische Kritik oder abweichende Meinung wird als Angriff gedeutet. Man greift dann vorschnell in die Kiste mit Verleumdungen und Verschwörungstheorien, arbeitet mit wirren Assoziationen, um gerade die Vielfalt, die es unter uns Muslimen auch heute gibt, zu dämonisieren. Der romantisierende Blick auf die muslimische Vielfalt in der Geschichte ist genehm, die Vielfalt im Hier und Heute aber zu leben ist dagegen verfemt.
Was wir als Muslime heute im Kontext der medialen und von beiden Seiten politisierten Diskurse brauchen, ist ein neues Selbstbewusstsein und eine souveräne Haltung, die insbesondere für junge Muslime identitätsstiftend wirken kann. Dafür gilt es die Panikmacher auf beiden Seiten links liegen zu lassen, den Diskurs von ihnen nicht vergiften zu lassen, sondern sowohl gesellschaftlich als auch innermuslimisch einen fundierten und sachlichen Diskurs zu führen.
In einem Hadith sagt der Prophet, Allahs Frieden und Segen auf ihm, sinngemäß, dass der Muslim derjenige ist, vor dessen Zunge und Hand die Menschen sicher sind. Diese Worte sind Richtlinien für uns, an denen wir zuerst uns selber messen müssen, in dem wir nicht jede Wortmeldung und Meinung, mit der wir persönlich nicht einverstanden sind, reflexhaft ablehnen, ins schlechte Licht rücken und mit Gerede hinter dem Rücken diskreditieren. Wir werden als Muslime an dem gemessen, was wir in unserem Leben praktizieren und an den Tag legen, nicht an dem, was Muslime in der Blütezeit des Islam geleistet haben. (eg)