Eine Woche nach Christchurch. Schmerzen und Leid in einer Intensität und einem Ausmaß, die uns verstummen lassen, sprachlos machen. Die Frage nach dem „Warum?“ einer so sinnlosen Tat ist kaum zu beantworten. Und dennoch müssen wir eine Antwort auf das Erlebte, das Erlittene suchen. Unser Glaube hält uns dazu an, in Zeiten der Gewalt und der Not geduldig zu sein. Er erinnert uns daran, dass auch scheinbar sinnlose Augenblicke eine Bedeutung haben.
Schnell drängt sich durch die Trauer und die Verzweiflung die Frage in unser Bewusstsein, warum Gott solche Taten zulässt. Wie kann ein allmächtiger und allgütiger Gott es zulassen, dass ein dreijähriges Kind dem Hass eines Mörders zum Opfer fällt? Wenn er eine solche Tat nicht verhindern kann, ist er dann noch allmächtig? Wenn er sie nicht verhindern will, ist er dann noch allgütig?
Aber so funktioniert unser Verhältnis zu Gott nicht. Seit dem Augenblick, als Adam sich über den Willen Gottes hinweggesetzt hat, sind wir von Gott getrennt. Nicht im Sinne einer Vertreibung, also einer Verstoßung durch Gott. Nein, nach dem Verständnis unserer Offenbarung wird Adam auf die Erde herab gesandt – von Gott entfremdet, um Seine Existenz nicht wissend, sondern glaubend. Mit einer tiefen Sehnsucht nach der Nähe Gottes, aber einer faktischen Distanz zu Ihm. Strauchelnd, zwischen seinen Begierden, seiner Hybris ob seiner menschlichen Macht über alles Irdische und der Sehnsucht nach der Nähe seines Schöpfers und der Suche nach Ihm, nach den Brüchen und Rissen im Irdischen, über die Er hineinstrahlt in unser Leben.
Er und damit Wir finden aber keinen Gott, der willkürlich sich über unser Handeln hinwegsetzend in unser Leben eingreift und es mal in diese, mal in jene Richtung lenkt. Wir können nicht mehr darauf warten, eine Offenbarung zu erhalten, eine Art der Anweisung und Lenkung durch ihn zu finden, die uns eigenständige Entscheidungen abnimmt. Wir sind seine Diener, die sich freiwillig vor ihm verbeugen, nicht durch ihn gebeugt werden.
Diese Freiwilligkeit, diese Emanzipation von Gott bürdet uns die Eigenverantwortung für unser Handeln auf. Es wird keinen Gott geben, der unmittelbar in unser Leben eingreift, Gutes bewirkt und Schlechtes verhindert. Wir leben miteinander, mit Mitmenschen, mit Wesen, die so unvollkommen sind, wie wir selbst es sind. Mit Menschen, die zum Guten und zum Bösen fähig sind. Einander zu Gutem anzuhalten und das Böse aus unseren Gedanken und unserem Handeln zu verdrängen, sind Verantwortungen, denen wir höchstpersönlich gerecht werden müssen.
Dabei wissen wir, dass es angesichts unserer Unvollkommenheit kein irdisches Paradies geben wird. Die Frage ist nur, ob wir uns selbst zu überwinden bereit sind, damit unsere Existenz für andere nicht die Hölle auf Erden bereitet?
Zwei Dinge fordern uns bei dieser Aufgabe heraus. Der Impuls der Rache und die Vorstellung von Überlegenheit.
Der Gedanke der Sühne, der Augenblick der Wiedervergeltung führen uns in die Versuchung, den eigenen Schmerz dadurch zu lindern, dass wir anderen die gleichen Schmerzen zufügen. „Fühle, was ich fühlen musste!“ ist der Antrieb, der uns in die Abgründe menschlichen Handelns führt, denn er entspricht nicht der höheren Gerechtigkeit, die uns unser Schöpfer – der Allbarmherzige, der Allgnädige – verspricht. Er ist vielmehr Ausdruck unserer menschlichen Unvollkommenheit, in der wir es nicht ertragen können, durch einen Akt des Unrechts in unserem Geltungsanspruch herabgesetzt, gekränkt zu werden.
Um uns wieder überlegen zu fühlen, üben wir Rache. Und setzen damit wieder neuen Schmerz in die Welt, den der Betroffene wieder zum Anlass nimmt, Schmerz mit Schmerz zu vergelten. Wir reservieren uns aber keinen Platz im Paradies, indem wir andere in die Hölle der Gewalt und des Leids stoßen. Gott hält uns an, diese menschliche Schwäche zu überwinden. Er zeigt uns den Weg auf, wie dies gelingen kann. Er hält uns an, zu vergeben.
Im Augenblick der Vergebung bricht die Spirale von Rache und Gegenrache. Im Moment der Vergebung überwinden wir unsere Eitelkeit, eine Überlegenheit wiederherstellen zu müssen, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Und das ist eine Vorstellung, die ganz wesentlich für das Zusammenleben in unserer pluralen Gesellschaft ist: Wir sind einander nicht überlegen!
Niemandes Herkunft, Kultur, Sprache oder Religion ist der des Anderen überlegen. Es gibt nichts, was einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt wäre und damit die Verteidigung um jeden Preis rechtfertigt. Das, was wir gewöhnt sind, das, womit wir aufgewachsen sind, empfinden wir vielleicht als erhaltungswürdiger oder glaubwürdiger. Aber umgekehrt gilt dies für jeden anderen auch. Die Stärke unserer Gesellschaft liegt darin, jedem diese Freiheit zu lassen, ohne ihn als Bedrohung des Eigenen zu empfinden.
Auch der Wohlstand, in dem wir leben, ist kein Beweis für die Überlegenheit einer bestimmten Kultur oder einer Religion oder eines bestimmten Brauchtums. Denn irdischen Wohlstand generieren wir auf Kosten der Schwächeren in dieser Welt. Uns geht es nicht besser, weil wir besser sind als andere, sondern weil es ihnen schlechter geht.
Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken, dass unsere irdische Existenz in krassem Widerspruch zum kategorischen Imperativ unseres moralischen Denkens steht. Wir wissen sehr wohl: Wir können nicht wollen, dass die Maxime unseres Handelns zum allgemeinen Gesetz für alle Menschen werde. Denn für den Wohlstand, den wir für uns reklamieren, reichen die Rohstoffe unseres Planeten nicht aus, wenn ihn jeder für sich beanspruchen würde.
Um diesen Wohlstand nicht zu teilen, andere nicht an ihm teilhaben zu lassen, sind wir zu Vielem bereit. Und um die massenhaft tödlichen Folgen dieser Bereitschaft auszuhalten, vergewissern wir uns immer wieder der eigenen vermeintlichen Überlegenheit.
Je schärfer diese vermeintliche Überlegenheit propagiert wird, desto größer ist die Gefahr, dass jemand bereit ist, Gewalt anzuwenden, um sie zu „verteidigen“. Auch diese Spirale müssen wir durchbrechen. Zur Notwendigkeit der Vergebung tritt damit die Notwendigkeit zur Veränderung hinzu.
Wir können mit kleinen Schritten beginnen. Vergeben wir einander tatsächliches oder vermeintliches Unrecht. Denken wir in unserem Leben, in den Entscheidungen, die wir treffen, in den Riten, die wir praktizieren, auch immer den Anderen mit. Als Muslime: beten wir während des Freitagsgebetes nicht mehr nur für das Wohl der „islamischen Welt“, sondern für das aller Menschen, mit denen wir zusammenleben. Als Nichtmuslime: haben wir keine Angst vor den Riten und Symbolen des Islam. Überwinden wir das, was uns daran Angst macht und entdecken wir das, was für Muslime darin von Bedeutung ist. Gelegenheit für beides besteht bei jedem Freitagsgebet – in der Moschee um die Ecke. (mk)