Eine Gemeinschaft ist nur so stark und für die Herausforderungen der Zukunft nur dann gewappnet, wenn sie immer wieder aufs Neue dazu bereit ist, althergebrachte Ansichten, überlieferte Anschauungen und Wertungen zu hinterfragen. Wir müssen unser für richtig erachtetes Verhalten mit dem Licht der Offenbarung des Islam immer wieder neu beleuchten.
Denn wir Menschen sind fehlbar, irrend und unvollkommen. So sind auch unsere Ansichten stets der Gefahr ausgesetzt, in die Irre zu gehen, von der islamischen Offenbarung abzuweichen und den rechten Weg, den „siratel mustakim“ zu verlassen. Wenn wir täglich beim Verrichten unserer Ritualgebete wiederholt Gott darum bitten, uns auf diesen rechten Weg zu führen, kommt darin eben diese Überzeugung zum Ausdruck, dass unsere menschlichen Überzeugungen und tradierten Vorstellungen vom rechten Weg wegführen können.
Ein Thema, bei dem diese Gefahr der Verirrung sehr ausgeprägt ist und leider bis zum heutigen Tag viele Muslime vom rechten Weg der Offenbarung abweichen lässt, ist die Stellung der Frauen in unserer Gemeinschaft. Es ist eine Binsenweisheit, dass Kultur immer Religion und Religion immer Kultur beeinflusst und in der gelebten Wirklichkeit beider, es zu Verirrungen kommen kann. Deshalb müssen wir sehr aufmerksam und kritisch uns selbst gegenüber sein, ob nicht unsere kulturell geprägten Vorstellungen zur Rolle der Frau in unserer Gemeinschaft uns den Zugang zum Segen der islamischen Offenbarung versperren.
Seien wir ehrlich mit uns selbst: Vielerorts sind die Männer in unserer Gemeinschaft davon überzeugt, dass sie eine Vormachtstellung gegenüber den Frauen haben, dass Frauen den Männern untergeordnet seien und der Mann darüber zu bestimmen habe, wie sich eine Frau zu verhalten hat. Wir müssen uns klarmachen, dass solche Ansichten keinen islamischen Rückhalt, keine islamische Legitimation und keine Unterstützung durch die Offenbarung Gottes haben.
Wir erzählen häufig davon, dass die islamische Offenbarung gerade an eine muslimische Urgemeinde gerichtet war, in deren gesellschaftlichem, nichtmuslimischem Umfeld Frauen rechtlos waren, als Besitzgegenstand des Mannes galten und wo neugeborene Töchter lebendig verscharrt wurden, weil sie keinen „Wert“ für die Familien hatten. Aber gerade diese Erzählung muss uns doch die Augen dafür öffnen, dass wir uns heute nicht auf die islamische Offenbarung stützen dürfen, wenn Frauen unter Gebirgen der Bevormundung, der Gewalt und der Fremdbestimmung begraben werden, also in ihrer selbstbestimmten Lebensführung und in ihrer Entscheidung über ihr eigenes Leben gehindert werden.
Gott offenbart uns, dass Männer und Frauen durch seine Schöpfung wechselseitig mit Eigenschaften bevorzugt worden sind, die jeweils dem anderen fehlen. So heißt es in Sure 4, Vers 32: „Und wünscht euch nicht das, womit Gott die einen von euch vor den anderen bevorzugt hat. Die Männer erhalten einen Anteil von dem, was sie erworben haben, und die Frauen erhalten einen Anteil von dem, was sie erworben haben.“
Die islamische Offenbarung verkündet uns also, dass Frauen und Männer mit jeweils unterschiedlichen Eigenschaften erschaffen worden sind. Daraus resultiert aber kein Über- und Unterordnungsverhältnis. Im Gegenteil ist dies vielmehr der Hinweis darauf, dass wir die Prüfung des irdischen Lebens nur dann meistern können, wenn wir als Gemeinschaft die Vorzüge, Talente und Fähigkeiten aller, also nicht nur der Männer, sondern auch der Frauen zur größtmöglichen Entfaltung bringen. Wenn wir also einander gerecht behandeln.
Gott hat die eine Hälfte seiner menschlichen Schöpfung nicht mangelhaft, nicht beschädigt oder unzureichend erschaffen. Er hat beide Hälften dieser Schöpfung einander als „Wali“, als Herzensfreunde, auf Augenhöhe erschaffen – und nicht die Frau als Rippennebenprodukt des Mannes.
Zum Beispiel meint mancher von uns, das Wort einer Frau gelte nur halb so viel, wie das eines Mannes – wie es so häufig aber eben irrig angenommen wird. Beschuldigt der Ehemann seine Frau der Untreue, kann die Frau – wie es in Sure 24, Verse 8-10 dargelegt ist – allein durch ihr Wort die gegen sie erhobene Beschuldigung entkräften. Das heißt, nach koranischen Maßstäben gilt in diesem konkreten Fall das Wort der Frau mehr als das des Mannes.
Warum hat sich aus diesem Beispiel keine gesellschaftliche Regel zu Gunsten der Frauen entwickelt? Weil in vielen unserer Gemeinschaften durch kulturelle Vorstellungen und Traditionen der Mann bevorzugt und die Frau benachteiligt wird.
Das kann aber nicht unsere Richtschnur für ein Verhalten sein, dass wir islamisch nennen. Nehmen wir die göttliche Offenbarung ernst, müssen wir zugestehen, dass unser gesellschaftliches Rollenverständnis hinterfragt und überprüft werden muss. Jede Rolle, die eine Frau in der Gesellschaft selbstbestimmt und aus freier Überzeugung einnehmen will, hat ihre Berechtigung und verdient Unterstützung. Sei es die Rolle einer Mutter, einer Ehefrau oder die einer beruflichen Karriere oder die vielfältigen Kombinationen aus all diesen verschiedenen Möglichkeiten.
Denn letztlich schuldet die Frau nicht dem Mann Rechtfertigung darüber, was sie aus ihrem Leben macht. Diese Rechenschaft schuldet sie nur ihrem Schöpfer, der ihr das gleiche Leben, den gleichen Verstand und den gleichen Willen mitgegeben hat, wie den Männern auch. Deshalb ist es die Verpflichtung jedes Muslim und jeder Muslimin, alles dafür zu tun, die durch Menschen erschaffenen Hindernisse, die Frauen an gleicher Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zurückhalten – sei es Gewalt, Bevormundung oder auch ungleiche Entlohnung und Benachteiligung –, aufzubrechen und zu beseitigen. Fangen wir damit noch heute in unseren Gemeinden an. Lassen wir die Frauen in unseren Gemeinden nicht bloß kochen und backen. Lassen wir sie mitreden, mitentscheiden, gemeinsam Verantwortung zum Gelingen unseres Gemeindelebens übernehmen. Sie haben viel mehr beizutragen, als das, was Männer bislang zugelassen haben. (mk)