Die Frage „Woher kommst Du?“ bewegt unser Land seit einigen Tagen. In dieser Frage und in den Diskussionen, die sie auslöst, spiegelt sich die Seele unserer Gesellschaft. In den lebendigen und teilweise scharfen Debatten, die wir miteinander und viel zu oft gegeneinander führen, verkörpert sich der Zustand unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Wir leben und reden zunehmend mit dem Anspruch auf Widerspruchslosigkeit. Die Infragestellung unserer Argumente und Ansichten empfinden wir immer häufiger als Infragestellung unseres Selbst. Im Disput legen wir es immer intensiver nicht nur darauf an, die Meinung des Anderen zu widerlegen. Wir streben danach, den Anderen selbst zu widerlegen, ihm seine Berechtigung, anders zu sein, abzusprechen.
Wir werden in unseren Ansichten und unseren Meinungen immer absoluter – ohne die Möglichkeit des eigenen Irrtums in allen Momenten unserer Existenz als hohe Wahrscheinlichkeit mitzudenken. Wir bewerten das Handeln des Anderen nach seiner äußeren Gestalt und setzen unsere Anschauung über diese Gestalt absolut – unsere Wahrnehmung dieser äußeren Erscheinung des Anderen wird zum unhinterfragten Maßstab unseres Urteils über ihn. Wir verdammen, was uns verletzt und feiern, was uns befriedigt.
Weder das Recht, noch die Offenbarung rechtfertigen diese Verengung der Wahrheit. Das Recht unterscheidet zwischen den objektiven Merkmalen des Handelns und dem subjektiven Willen des Handelnden. Die Offenbarung hinterfragt die Absichten, die den Handlungen zu Grunde liegen. Die Offenbarung will uns dazu anhalten, seltener nach dem Was zu fragen, sondern häufiger nach dem Warum.
So blenden viele in der aktuellen Debatte um die Frage „Woher kommst Du?“ die unterschiedlichsten Absichten aus, von denen diese Frage getragen sein mag.
Es ist nur allzu verständlich und menschlich nachvollziehbar, selbst jenen die Antwort verweigern zu wollen, die mit den besten Absichten fragen. Denn die Frage nach der Herkunft, kann mit großen Schmerzen verbunden sein. Sie kann Erinnerungen an Verlust, an Trauer, an großes Unrecht und verschiedenste Traumata hervorbringen. Die beste Absicht kann diesen Schmerz, der bei manchen durch die Frage nach der Herkunft ausgelöst werden kann, nicht lindern.
Manche unter uns meinen auch, dass die Frage nach der Herkunft für sich bereits den Gedanken der Ausgrenzung, der Delegitimierung einer gleichberechtigten Teilhabe an dieser Gesellschaft impliziere. Sie wollen diese Frage zurückweisen, weil sie ein Machtgefälle zu Lasten der Befragten konserviere. Die Verweigerung einer Antwort soll dieses Machtgefälle umkehren. Die Delegitimierung der Frage nach der Herkunft des Anderen soll emanzipieren und jene ausgrenzen, die zu fragen gewagt haben.
Aber hierin liegt kein Segen. Denn diesem Wunsch, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nur umzukehren, sie nicht aufzulösen, sondern nur zu eigenen Gunsten zu verdrehen, wohnt der Wunsch nach Wiedervergeltung inne. Ein solcher Sühnegedanke dient aber nur der Zähmung unserer dunkelsten Seiten, nicht aber unserer Reifung als Mensch. Zurückweisung, die Ablehnung des Anderen, seine Zurechtweisung durch Diskursverweigerung empowern uns nicht, machen uns nicht stark gegen das Unrecht und die Ungerechtigkeit. Damit legen wir uns nur wieder neue Fesseln an. Fesseln der Selbstbeschränkung.
Die Unterstellung einer guten Absicht, die Überwindung der eigenen Verletzung und die Vergebung zugefügter Wunden können es uns hingegen viel eher ermöglichen, das zu verändern, was wir beklagen. Abwendung ist Ausgrenzung und verhindert die Möglichkeit der Läuterung; sie hindert uns daran, das wir uns selbst und andere zum Guten verändern.
Teilhabe in und an einer pluralistischen Gesellschaft wird nur dann gelingen, wenn wir diese Teilhabe nicht als einseitigen Anspruch begreifen, sondern als wechselseitige Herausforderung. In dem Maße, in dem wir unsere Umwelt an dem teilhaben lassen, was wir sind und was uns ausmacht, können wir diese Umwelt dazu befähigen, sich zum Guten zu verändern. Das gilt auch für die Schmerzen, die wir empfinden; auch für die Wunden, die uns geschlagen wurden.
Nur im fortdauernden Gespräch, dem geduldigen Austausch werden wir Unwissenheit und Irrtum überwinden. Und wir werden die Möglichkeit entdecken, das zu finden, was uns in aller Individualität anders sein lässt, uns erlaubt, mit all unseren Besonderheiten der Andere zu bleiben, und uns aber gleichzeitig miteinander verbindet.
In der Sure al-Balad (Sure 90) beschreibt die Offenbarung unsere Existenz als eine von Mühsal geprägte Suche. Sie verspricht uns nicht eine von Konflikten befreite, von Widersprüchen verschonte, von Verletzungen behütete Existenz.
Um es mit den poetischen Worten der Übersetzung Friedrich Rückerts zu sagen, der versucht, die Reimprosa des Originals einzufangen: „Soll ich schwören bei dieser Stadt? Beim Säemann und seiner Saat! Wir erschufen den Menschen zu harter Tat. Meint er, dass Niemand Gewalt auf ihn hat? Er spricht: O wie vieles Gut ich zertrat! Meint er, dass Niemand gesehn ihn hat? Wer hat ihm die Augen bereitet? Und die Lippen ihm geweitet? Und auf den Scheideweg ihn geleitet? Doch er erklimmt nicht den hohen Rand. Weißt Du, was ist der hohe Rand? Zu lösen der Gefangenen Band; Zu speisen, wenn der Hunger im Land, Den Waisen, der dir anverwandt, Den Armen, der dir unbekannt.“
Wenn wir einander das Gespräch verweigern, wie können wir dann jemals entdecken, dass der biblische Text einen ähnlichen Schwur kennt? In Jesaja 58:6-7 heißt es: „Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen.“
Wir dürfen uns dem Erklimmen des hohen Randes, dem Beschreiten des steinigen Pfades nicht verweigern, wenn wir die Fesseln des Unrechts lösen wollen. Der Schlüssel zu unserem Zusammenleben liegt nicht darin, sich einander zu verweigern und zu verstummen. Wir müssen einander viel mehr Fragen stellen. Also, fragt einander häufiger „Woher kommst Du?“, „Was hat Dich zu dem gemacht, der Du heute bist?“ Und bleibt nicht bei dieser Frage stehen. Fragt weiter. Fragt einander nicht nur, woher ihr kommt. Fragt: „Wo willst Du hin?“, „Was sind Deine Ziele, Deine Hoffnungen, Deine Wünsche im Leben?“ Und fragt einander: „Wie kann ich Dir dabei helfen, Deine Ziele zu erreichen?“. (mk)