Der politische Islam

Wir sind gegenwärtig in derart oberflächlichen Diskussionen und Debatten verstrickt, dass die Fragwürdigkeit der Argumente, denen wir ausgesetzt sind, aber auch derer wir uns bedienen, uns von der Essenz unseres Glaubens, von dem Wesen unseres Bekenntnisses wegführen.

Wir verirren uns immer häufiger und immer tiefer in einen Missbrauch unseres Glaubens für politische und ideologische Motive. Wir lassen es zu oder befördern sogar die Politisierung des Islam für Zwecke und Ziele, die uns erstrebenswert vorkommen. Wir instrumentalisieren unseren Glauben als billiges Mittel der Manipulation oder gar als Rechtfertigung für die Abwertung anderer Menschen. Kein Aspekt unseres Glaubens bleibt von diesem Missbrauch verschont.

Wir lassen es zu oder unterstützen sogar die Mystifizierung historischer oder aktueller politischer Personen zu pseudosakralen Heilsbringern. Wir setzen unsere Hoffnung in politische Strömungen oder Gruppierungen. Wir delegieren die Verantwortung für unseren Glauben an Organisationen und deren Führungspersonal.

Selbst die wichtigsten Elemente unseres Glaubens, die Ausdrucksformen unserer Glaubenspraxis werden durch diese Politisierung korrumpiert.

Einstmals war das Ritualgebet der gemeindliche aber auch der persönliche, der kollektive aber auch der individuelle Ausdruck der friedlichen, zivilen Auflehnung gegen das Unrecht und die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Den Mächtigen war das Ritualgebet eine tägliche Botschaft, dass Unrecht und Ungerechtigkeit nicht hingenommen werden – gerade und ganz besonders dann nicht, wenn sie zum Instrument der Macht geworden sind.

Bi-smi llahi r-rahmani r-ahim – Mit dem Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes,

Die am häufigsten zitierte Eigenschaft der höchsten Instanz ist Barmherzigkeit, ist Gnade – nicht Macht.

Al-hamdu li-llahi rabbi l-alamin – Lob sei Gott, dem Herrn der Welten,

Es gibt eine höhere Instanz als die Instanz der weltlichen Macht.

Ar-rahmani r-rahim – dem Barmherzigen und Gnädigen,

Mitgefühl, Vergebung, Gerechtigkeit als Maßstab des Rechts sind die wichtigsten Manifestationen göttlicher Macht.

Maliki yaumi d-din – der am Tag des Gerichts regiert!

Jede weltliche Macht, möge sie sich noch so absolut gerieren, hat sich letztlich vor einem höheren Richter zu verantworten. Über die, die sich heute anmaßen, über andere willkürlich, ohne Gnade oder Barmherzigkeit zu richten, wird dereinst eine höhere Instanz zu Gericht sitzen.

Iyyaka na‘budu wa-iyyaka nasta‘in – Dir dienen wir und Dich bitten wir um Hilfe,

Zuflucht und Hoffnung liegen einzig bei Gott. Ihm gebührt die alleinige Dienerschaft des Menschen. Der weltlichen Macht dient der Mensch nicht, er hinterfragt ihren Anspruch, ihre Legitimation und damit ihren Einsatz für Recht und Gerechtigkeit.

Wir aber haben aufgehört zu hinterfragen. Wir haben uns verloren in einer Dienerschaft für Ideologien, für politische Programme, für Nationalismen, ja selbst in einer Dienerschaft für einzelne Menschen, denen wir Macht zuschreiben.

Wir haben vergessen, dass die Verbeugung im Ritualgebet nur der göttlichen Instanz gewidmet ist und damit gleichzeitig den Anspruch erhebt, weltlicher Macht auf der gleichen Augenhöhe alles Vergänglichen zu begegnen – im Zweifel, stets hinterfragend und mit offener Kritik.

Der Ort der Niederwerfung vor Gott ist nicht der Ort, an dem weltliche Machtansprüche symbolisch ausgedrückt oder tatsächlich propagiert werden. Wir vergessen das, wenn wir uns in unseren Moscheen vor weltlichen Amtsinhabern und Würdenträgern verbeugen.

Heute lassen wir es zu, ja wir freuen uns sogar darüber, dass das Ritualgebet, dass Gebetshäuser als Kulisse politischer Machtdemonstrationen missbraucht werden.

Als der Prophet (s.a.s.) nach dem Einzug in Mekka den ehemaligen Sklaven Bilal ibn Rabah al-Habaschi damit beauftragte, vom Dach der Kaaba zum Gebet zu rufen, war das keine Geste politischer Macht. Er tat dies vielmehr im Bewusstsein, dass ein schwarzer Diener von vielen als unwürdig angesehen wurde, diesen historischen Moment zu prägen.

Wann haben wir zuletzt Menschen, die als die Schwachen und Schwächsten in unserer Gesellschaft betrachtet werden, mit den wichtigsten Aufgaben unserer Gemeinden betraut? Wann haben wir in unseren Gemeinden zuletzt Zeichen gesetzt, um der Ausgrenzung und der Ungleichbehandlung von Menschen aktiv entgegenzuwirken?

Die politischste Facette des Islam ist seine Funktion, uns daran zu erinnern, uns zu ermahnen, dass jeder Mensch Träger seiner höchsteigenen Würde ist. Dass unsere Gesellschaft nur dann zum Wohle aller funktionieren kann, wenn die Würde jedes einzelnen geachtet und zur Entfaltung gebracht wird. In diesem Sinne ist der Islam zwingend politisch. Seine Politisierung als Instrument der Macht bewirkt genau das Gegenteil. Als Muslime müssen wir die Verantwortung spüren, uns letzterem zu verweigern, um ersteres ermöglichen zu können. (mk)