Die Kultur des Sprechens

Als Menschen bedienen wir uns der Sprache, um zu kommunizieren. Dies zeichnet uns Menschen aus und hebt uns von anderen Wesen ab. Sprache ist mehr als ein Mittel. Sprache ist konstituierend und spiegelt mehr als unsere Gefühle, Ideen und Eindrücke wieder. Sie ist Ausdruck unseres Seins. „Sein, dass verstanden werden kann, ist Sprache“, sagte Hans Georg Gadamer. Durch Sprache konstituieren und konstruieren wir unsere Welt und dies hat wieder Auswirkung auf uns und auf die Anderen.

Als muslimische Minderheit kommunizieren wir nicht nur in unseren Muttersprachen, sondern bedienen uns der deutschen Sprache, nicht nur weil junge Menschen die Sprache ihrer Eltern nicht mehr beherrschen. Wir möchten Inhalte, Ideen, Thesen und Eindrücke in die deutsche Sprachwelt übertragen. Manchmal übersetzen wir oder generieren hierbei neue Inhalte. Die Grundannahme dabei ist, dass dies Teil eines offenen Diskurses ist bzw. sein sollte- der offen ist für Rede und Gegenrede. Mit diesem Diskurs prägen wir als Pioniere eines deutschsprachigen Islams eine eigene Sprachkultur, einen Habitus.

Es gibt nur wenige mediale Plattformen, über die Muslime miteinander oder mit der Außenwelt kommunizieren. Der Hauptteil der Kommunikation, wenn nicht hinter verschlossenen Türen, erfolgt über Social Media. Es irritiert nicht nur, es ist mittlerweile enttäuschend zu sehen, dass Protagonisten des Islams in Deutschland sich über Social Media verbal zerfleischen. Es liegt mit Sicherheit auch am Medium. Es erlaubt, teilweise durch die Ermöglichung von Fakeaccounts, Fakenews usw. Eindrücke zu vermitteln, Ideen zu transportieren, die nichts mit der Realität zu tun haben. Desweiteren ermöglicht es Einzelpersonen, eine größere Zahl von Menschen zu erreichen, als dies physisch möglich wäre. Dies gibt Akteuren die Möglichkeit Stimmung zumachen und zu manipulieren. Vor allem ermöglicht und kreiert es eine Diskussionskultur, in der zwangsweise komplexe Inhalte auf wenige Sätze reduziert werden und dabei Missverständnisse vorprogrammiert sind. Zudem ist es kaum möglich, die emotionale Betroffenheit des Gegenüber zu erkennen.

Damit schaden sie nicht nur sich selbst, sondern auch der Jugend, die Hinweise erwarten, wie ein Leben als Muslim in Deutschland aussehen kann. Längst haben sich viele aufgeweckte junge Menschen von den Verbänden abgewendet, weil sie nicht erkennen können, dass diese ihre Interessen vertreten, geschweige denn ihnen Halt und Inhalt für ihr Leben in einem nicht-muslimischen Kontext geben können. Sie schütteln aber auch oftmals den Kopf, wenn sie einzelne Akteure aus dem muslimischen Milieu beobachten, die an der Lebenswirklichkeit der Muslime vorbeireden, in ein Selbstgespräch verfallen und den Bezug zur Basis schon längst verloren haben.

Was ist zu tun? Im Koran heißt es: „Ihr Gläubigen! Laßt euch nicht so viel auf Mutmaßungen ein!Mutmaßungen anstellen ist manchmal Sünde. Und spioniert nicht und sprecht nicht hintenherum schlecht voneinander. Möchte (wohl) einer von euch (wie ein Aasgeier) das Fleisch seines toten Bruders verzehren? Das wäre euch doch zuwider Fürchtet Allah! Er ist gnädig und barmherzig.“ (Sure Hudschurat, Vers 12).

Daraus lassen sich folgende Prinzipien für das Miteinander ableiten:

  • Sich vor Mutmaßungen hüten (z.B. keine Mutmaßungen darüber anzustellen, mit welchen Absichten ein Mensch etwas sagt oder wie er/sie handelt)
  • Ausspionieren ist verboten
  • Die Nachrede ist eine Sünde (dies wird als eine abscheuliche Tat bezeichnet, welche mit dem Essen des Fleisches eines toten Bruders verglichen wird.

Wie kann nun Kommunikation gelingen?Verständigung ist nach Jürgen Habermas „ein Prozeß, der Unverständnis und Mißverständnis, Unwahrhaftigkeit sich und anderen gegenüber,schließlich Nicht-Übereinstimmungen auf der gemeinsamen Basis von Geltungsansprüchen zu überwinden sucht“ (Habermas 1984, S.253).

Für diese Überwindung hat jeder das Recht, ob in einem Verband Mitglied oder nicht, sich in den Diskurs einzubringen – unter der Bedingung, „dass keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt“. Und ohne irgendwelche unsachlichen Mutmaßungen über seine/ihre Absicht aufzustellen.

Dabei sollten wir uns immer wieder fragen, quasi als Selbstgespräch, warum wir kommunizieren: in welcher Absicht sprechen wir? Denn Allah wird uns nach unseren Absichten belohnen. Wenn wir sprechen und wenn wir schreiben,folgen wir der Absicht, uns ehrlich in einen Diskurs einzubringen oder folgen wir unserem Ego? Als Menschen können wir uns dabei nicht ganz von unseren Absichten, Trieben usw. befreien, aber es sollte zu mindestens möglich sein,uns selbst darüber Rechenschaft abzulegen. Ansonsten erleben wir Kritik als persönlichen Angriff und geraten damit in einen sprichwörtlichen Teufelskreis geraten. Die Redlichkeit im Sinne von Habermas erfordert, dass jeder die gleichen Chancen haben sollte, am Diskurs teilzunehmen. Wir erleben aber bei Foren, auf Facebook, Onlinemagazinen usw. das Beiträge gelöscht, redigiert oder erst gar nicht veröffentlicht werden – weil sie eben nicht der eigenen Meinung entsprechen. Dies widerspricht dem Prinzip der Redlichkeit.

In einer offenen, selbstkritischen Kommunikation, der Spielregeln einhält und auf einer sachlichen, relativ emotionsfreien Ebene bleibt, kommen wir weiter. Oftmals lassen wir uns aber von unseren Gefühlen leiten, vergessen Ermahnungen zu Nachrede und Mutmaßungen im Koran,verschließen uns der Kritik und führen einen Monolog von Gleichgesinnten. Wollen wir dies überwinden, bedarf es einer eingehenden Selbstreflexion und vielleicht auch eine Horizontenverschmelzung (Gadamer), die die Andersartigkeit des Anderen im Gespräch anerkennt. Der Toleranz, die wir von Nicht-Muslimen für den Islam und die Muslime berechtigter Weise erwarten, sollten wir zuerst gegenüber unseren eigenen muslimischen Geschwistern praktizieren.

Folglich mein Aufruf: Lasst uns sachlich kommunizieren auf Augenhöhe und von Angesicht zu Angesicht – wenn möglich nicht über Social Media. Dabei werden wir manchmal über unseren Schatten springen müssen: Aber es lohnt sich, bestimmt!

Ein Gastbeitrag von Dr. Ismail Yavuzcan.