Heute ist Karfreitag. Für unsere christlichen Mitbürger ist dies ein Tag großer Trauer und des stillen Gedenkens. Ab Sonntag begehen sie voller Freude und Hoffnung das Osterfest – die im Bedeutungszusammenhang ihrer Religion betrachtet bedeutsamsten und höchsten Feiertage. Anlässlich solcher Feiertage entspinnt sich immer häufiger auch eine Debatte darüber, wie sehr solche Festtage noch geachtet und gepflegt werden oder wie sehr sie einem vermeintlich bedrängenden Einfluss des Islam unterliegen.
Es werden Stimmen laut, die darüber klagen, christliche Traditionen würden aus vermeintlicher Rücksicht den Muslimen gegenüber verdrängt und im öffentlichen Raum unkenntlich gemacht. Die Diskussionen darüber, ob Weihnachtsmärkte noch so genannt werden dürfen oder warum der Osterhase im Einzelhandel jetzt plötzlich Traditionshase genannt wird, werden als mahnende Vorboten einer vermeintlichen Islamisierung beklagt. Von kultureller Selbstaufgabe und Kapitulation vor dem Islam ist dann häufig die Rede. So auch anlässlich dieses aktuellen Osterfestes.
Der Hinweis darauf, dass seit jeher im Einzelhandel unterschiedlichste Varianten des Osterhasen vertrieben werden und das Warensortiment der Kaufhäuser unter der Rubrik „Osterhase“ weitere Bezeichnungen kennt, um die unterschiedlichen Ausführungen des Osterhasen unterscheiden zu können – zum Beispiel als Traditionshase, Goldener Hase, Lächelnder Hase, Schmunzelhase etc. –, kann die Gemüter kaum beruhigen.
Um es deutlich zu sagen: Solche Debatten sind Selbstgespräche einer verunsicherten Gesellschaft. Diese Verunsicherung ist aber keine objektiv begründete Angst vor der vermeintlichen Okkupationsabsicht einer fremden Religionsgemeinschaft. Sie ist Ausdruck mangelnder Selbstgewissheit einer Gesellschaft, deren religiöse Bräuche und Traditionen zum Fragment einer immer vielfältigeren Welt werden und in dieser nicht bloß durch negative Abgrenzung von anderen und entschiedene Zurückweisung des „Fremden“ bewahrt werden können, sondern nur durch gelebte positive Praxis. Für diese gelebte Praxis sind aber die Gläubigen selbst verantwortlich.
Muslime sind nicht dafür verantwortlich, dass Christen immer seltener kirchliche Gottesdienste besuchen. Muslime sind nicht dafür verantwortlich, dass in der hiesigen Gesellschaft das Weihnachtsfest mit seiner intensiven Anbindung an unsere Übermaß- und Konsumgesellschaft als das eigentliche Hochfest der Christen wahrgenommen wird und das spirituell wesentlich bedeutsamere Osterfest viel zu häufig nur als eine Art „Kinderfest mit Eiersuche“ in den Hintergrund tritt.
Das gleiche Phänomen der schwindenden Selbstgewissheit und der Kompensation von Verlustängsten durch negative und aggressive Narrative der Überfremdung und des Aufrufs zum religiös-kulturellen Widerstand erleben wir auch in unseren muslimischen Reihen. Junge Muslime erhalten den Applaus ihrer älteren Glaubensgenossen, wenn sie sich mit martialischen Tweets vom Weihnachtsfest distanzieren oder sich trotzig einer Silvesterfeier verweigern, weil dies ja ein christlicher Brauch sei.
Die Angst sogenannter „besorgter Bürger“ vor einer vermeintlich politisch beschlossenen und schleichend umgesetzten Islamisierung unseres Landes ist die spiegelbildliche Reflexion der Angst muslimischer Gemeinschaften vor einer vermeintlich politisch betriebenen Assimilation junger Muslime durch die Einflüsterungen eines „deutschen Islam“.
Beide Gruppen sind unfähig, religiöse und traditionelle Vielfalt als Vorteil und Gelegenheit zur persönlichen Reifung zu verstehen. Für sie liegt das Heil nur in einer ausschließlichen und monokulturellen Wahrheit.
Aber das widerspricht dem Schöpfungsprinzip Allahs. Im Koran heißt es: „O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Weib erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gerechteste ist. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.“ (vgl. Sure 49 Vers 13)
Allein deswegen kann kein Muslim ein Interesse daran haben, dass christliche Bräuche und Traditionen aus dem öffentlichen Raum verschwinden oder zurückgedrängt werden. Es liegt ein Segen darin, dass wir unterschiedlich glauben und unterschiedliche Traditionen haben. Nicht nur die Gemeinsamkeiten unserer Glaubenswelten vereinen uns. Auch dort, wo wir uns ganz grundsätzlich unterscheiden, liegt gerade in dieser Verschiedenheit der Segen der Selbstprüfung, des Hinterfragens und des besseren Verstehens und letztlich damit auch der festeren Bindung an die eigene Glaubenswelt.
Im christlichen Verständnis, in der Binnenwelt des christlichen Glaubens, bilden der Sühnetod Jesu am Kreuz und seine Auferstehung zu Ostern den Kern der christlichen Glaubensüberzeugung. Vereinfacht gesprochen: Nur der Glaube an diesen Kreuztod Jesu kann in der christlichen Glaubensauffassung zur Erlösung des Menschen führen.
Als Muslime können wir diesen Glaubensschritt nicht mitgehen. Für uns ist der Mensch mit seiner Geburt unbelastet von den Sünden seiner Väter und der Sünde Adams. Der Weg zu Allah, die Hoffnung auf Vergebung und Annahme durch Allah setzen für jeden Einzelnen die Mühe, die Schmerzen und die Selbstüberwindung in seinem diesseitigen Leben voraus.
Für die eigenen Sünden kann sich niemand anderes aufopfern. Nur wer ganz persönlich zu dieser äußersten Anstrengung bereit ist, also bereit ist, seine Sünden zu überwinden, sie nicht zu wiederholen und ein gerechterer Mensch zu werden, kann auf die Vergebung Allahs hoffen.
Es geht bei dieser Betrachtung nicht darum, welche Glaubensüberzeugung „besser“ oder „schlechter“ ist. Diese Entscheidung ist eine höchstpersönliche, für die wir niemandem Rechenschaft schulden als der höchsten Instanz, der wir dereinst gegenübertreten. Entscheidend ist, dass wir im Gespräch mit Andersgläubigen oder auch Nichtgläubigen die Möglichkeit erkennen, unsere eigenen Überzeugungen vertiefen und festigen zu können. Jede und jeder für sich ist bedeutsam, ist wichtig, mit allen unterschiedlichen und wertvollen Bräuchen und Traditionen.
In dieser Begegnung liegen Segen und Hoffnung. Sie sollte uns keine Angst machen. (mk)