Die Ehe wird im Islam als Vervollständigung des Glaubens betrachtet, denn mit der Ehe werden Grundbedürfnisse des Menschen nach Partnerschaft, Familie und Fortpflanzung gedeckt. Eine Ehe kann nur in einer glücklichen Partnerschaft funktionieren, wenn das nicht der Fall ist, hat sowohl der Mann als auch die Frau das Recht auf Scheidung (s. Koran 2:229).
Die Stellung einer geschiedenen Frau und die eines geschiedenen Mannes fällt in der kulturellen Vorstellung manch einer muslimischen Gesellschaft jedoch recht unterschiedlich aus. Während es für einen Mann selbstverständlich ist, dass er sich nach der Scheidung möglichst schnell nach einer Ehefrau umschaut, erwartet man von der Frau, dass sie ihr Leben für ihre Kinder opfert.
Mütter gelten als Rabenmütter, wenn sie für das finanzielle Auskommen selbst Verantwortung übernehmen und ihre Kinder bei Kindertagesstätte oder Ganztagsschule abgeben oder als faule und ungebildete Hausfrauen, wenn sie sich um die Erziehung ihrer Kinder persönlich kümmern wollen. Falls eine geschiedene Frau keine Kinder hat, verringern sich ihre Chancen auf eine Eheschließung als „geschiedene“ Frau um einiges.
Auch im Sprachgebrauch hat das Wort „geschieden“ eine negativ besetzte Konnotation. Als geschiedene Frau muss man sich besonders „zügeln“, da jedes Lächeln, auffälliges Make-Up, Fotos in Social Media, Kontakt zu männlichen Bekannten und Freunden als verwerfliche Suche nach männlicher Bekanntschaft interpretiert werden kann.
Es ist interessant zu beobachten, dass dieser immense gesellschaftliche Druck, der auf den Frauen lastet, sowohl von Frauen als auch von Männern ausgeübt wird. Frauen unterdrücken Frauen und unterstützten eine patriarchale Tradition, die leider in manchen muslimischen Kreisen vorhanden ist. Dagegen wehren sich junge muslimische Frauen in Deutschland gegen die traditionsorientierte Religions- und Lebenspraxis ihrer Elterngeneration, die stark konservativ ist und nicht hinterfragt werden soll. Sie beschäftigen sich bewusst mit ihrer Religion und stellen fest, dass gerade kulturelle Traditionen hinterfragt werden müssen, da sie menschlichen Ursprungs und nicht immer kompatibel mit der göttlichen Quelle sind: “Wenn man zu ihnen sagt: “Folgt dem, was Gott herabgesandt hat!“ Dann sagen sie: „Nein, wir folgen dem, was wir bei unseren Vätern fanden!“ Doch wenn es nun so wäre, dass ihre Väter nichts begriffen hätten und sich nicht rechtleiten ließen?”(2:170)
Viele muslimische Frauen in Deutschland lassen es nicht mehr zu, dass alte Traditionen ihr Leben bestimmen. Sie lehnen geschlechterspezifische Fremdbestimmung ab und der Koran dient ihnen als Erstquelle, dessen Ursprünge mit einer neuen Hermeneutik hinterfragt werden. Ob sie nun verheiratet ist oder geschieden, ob sie Kopftuch trägt oder nicht (mehr), ob sie berufstätig ist oder Hausfrau, die muslimische Frau möchte als Individuum wahrgenommen werden und nimmt ihr Leben verantwortungsbewusst selbst in die Hand, sowie jeder gläubige Mensch im Koran zur Wachsamkeit und Mündigkeit aufgerufen wird: “Die Ungläubigen, sie gleichen einem, der etwas anschreit, was nur auf Anruf oder Zuruf hört: taub, stumm und blind – also begreifen sie nicht!”(2:171)
Ob Mann oder Frau, Allah hat uns ein Leben geschenkt und wir sollten verantwortungsvoll damit umgehen, indem wir es selbst gestalten. Die Einschränkung unserer Freiheit und der Einfluss von verfilzten Traditionen halten uns sowohl vom gesellschaftlichem Fortschritt als auch von religiöser Bewusstseinserweiterung ab. Die Beschäftigung mit den Quellen unserer Religion kann uns das Leben in jeder Gesellschaft erleichtern: “Ihr Menschen ! Siehe, wir erschufen euch als Mann und Frau und machten euch zu Völkern und Stämmen, damit ihr einander kennenlernt.” (49:13) Harmonie oder zumindest respektvollen Umgang zwischen Menschen kann man nur dann erreichen, wenn man bereit ist, das Gewohnte zu hinterfragen und den Mut hat, neue Wege zu gehen. (sbk)