Traditionen sind uns wichtig. Wir legen wert darauf, dass unsere Gepflogenheiten, Bräuche und überlieferten Vorstellungen befolgt werden. Wir bewahren unsere Handlungs- und Denkmuster, also all jenes, das nicht angeboren ist, als Grundsubstanz unserer Identität.
Für soziale Gruppen in der Situation der Minderheit fungiert die Traditionsbewahrung und -pflege als wichtiger Träger von Identität, ja geradezu als identitätsstiftend. Für Gruppen in der gesellschaftlichen Rolle der Mehrheit vermittelt die Vorstellung von Tradition und ihrer Bewahrung gleichsam die Definition der eigenen Kultur.
Gerade durch die Bewahrung, die Beständigkeit von Denk- und Handlungsmustern transformiert sich eine personelle Gruppe hin zu einer Kultur. In beiden gesellschaftlichen Rollen ist diese Form der Kulturwerdung so wichtig, dass beide stets in der Furcht davor leben, die eigene Kultur könne aufgebrochen, verwässert, also verändert und damit geschwächt werden.
So flüchtet sich die Minderheit in die Haltung des kulturellen Widerstandskämpfers gegen den Verlust eigener, autonomer Identität. Und die Mehrheit steigert die eigene Tradition in ein kulturelles Leitbild zum vermeintlichen Segen aller und formuliert damit den Anspruch, der eigenen Tradition und Kultur sei eine Höherwertigkeit und eine damit völlig unhinterfragte, notwendige Beständigkeit immanent.
Unter diese allgemeinen Beschreibungen können wir sowohl den Hang zum muslimischen Konservatismus, also den Wunsch nach unveränderter Bewahrung althergebrachter traditioneller Glaubens- und Handlungsvorstellungen, als auch den Drang nach Vorgabe einer Leitkultur als die Vorstellung einer allein selig machenden, vermeintlich eindeutigen und unverrückbaren Lebensart einordnen.
Beide Anschauungen irritieren uns. Und das vollkommen zu Recht. Denn sie sind uns schöpfungsbedingt fremd. Allah thematisiert dies an vielen Stellen seiner Offenbarung, die uns in Gestalt des Koran zugänglich ist. Und selbst dieser konkrete Zugang stellt uns vor die Herausforderung, Tradition zu hinterfragen.
Einerseits haben wir den nachvollziehbaren Wunsch danach, uns überliefertes Brauchtum, uns anvertraute Tradition zu pflegen und zu bewahren. Andererseits spricht Allah durch den Koran zu uns und hat zu diesem Thema eine uns sehr beanspruchende und herausfordernde Meinung. Ja, es scheint zuweilen so, als wolle er uns zu einem Streit provozieren – so schwer verdaulich sind seine Worte.
In über drei Dutzend Koranversen äußert sich Allah zu dem Phänomen der unhinterfragten Bewahrung von Tradition und warnt vor ihren schädlichen Folgen und zerstörerischen Einflüssen.
So zum Beispiel in folgenden Versen:
„So haben Wir auch vor dir in eine Stadt keinen Warner gesandt, ohne daß diejenigen, die in ihr üppig lebten, gesagt hätten: „Wir haben ja bereits unsere Väter in einer bestimmten Glaubensrichtung vorgefunden, und auf ihren Spuren folgen wir ihrem Vorbild.
Er sagte: „Etwa auch, wenn ich euch bringe, was eine bessere Rechtleitung enthält als das, worin ihr eure Väter vorgefunden habt?“ Sie sagten: „Wir verleugnen ja das, womit ihr gesandt worden seid.“ (Sure 43, Vers 23-24)
„Und wenn sie eine Abscheulichkeit begehen, sagen sie: „Wir haben unsere Väter darin vorgefunden, und Allah hat es uns geboten.“ Sag: Allah gebietet nicht Schändliches. Wollt ihr denn über Allah sagen, was ihr nicht wisst?“ (Sure 7, Vers 28)
„Und wenn zu ihnen gesagt wird: „Folgt dem, was Allah herabgesandt hat“, sagen sie: „Nein! Vielmehr folgen wir dem, worin wir unsere Väter vorgefunden haben.“ Was denn, auch wenn der Satan sie zur Strafe der Feuerglut einlädt?“ (Sure 31, Vers 21)
„Und wenn man zu ihnen sagt: „Kommt her zu dem, was Allah als Offenbarung herabgesandt hat, und zum Gesandten“, sagen sie: „Unsere Genüge ist das, worin wir unsere Väter vorgefunden haben.“ Was denn, auch wenn ihre Väter nichts begriffen und nicht rechtgeleitet waren?“ (Sure 5, Vers 104; vgl. a. Sure 2, Vers 170)
Wichtig ist bei der Einordnung dieser Verse der Vergleich zu einem anderen Vers, der uns von den Worten Josefs berichtet: „und ich bin dem Glaubensbekenntnis meiner Väter Abraham, Isaak und Jakob gefolgt. Es steht uns nicht zu, Allah etwas beizugesellen. Das ist etwas von Allahs Huld gegen uns und gegen die Menschen. Aber die meisten Menschen sind nicht dankbar.“ (Sure 12, Vers 38)
Es geht also nicht um die Ablehnung der Tradition als Überlieferung von Wissen, von Einsicht in das Wirken Allahs, von Wahrheit, die durch die Beschäftigung mit den Offenbarungsquellen entstanden, herausgearbeitet und verfestigt wurde. Ohne eine solche Wissenstradition als Mittel zum Zweck religiöser und weltlicher Suche, wären die Anstrengungen früherer Generationen unwiederbringlich verloren.
Es geht darum, zu erkennen, dass Tradition – verstanden als unkritische Befolgung althergebrachter Gewohnheiten und Ansichten, also als ein jedes Mittel heiligender Zweck – dem offenbarten Wissen, der Rechtleitung Allahs widersprechen kann. Dort, wo dieser Widerspruch wahrgenommen wird, kann Tradition, so bequem sie sei oder so überzeugt man von ihrem Wert auch sein mag, nicht zum Wohle der Menschen wirken. Dort muss sie als Hindernis auf dem Weg zu Allah begriffen werden. Dort entfaltet sie die zerstörerische Kraft, die mit der Tabuisierung von Tradition einhergeht. Dort verhindert sie den Fortschritt, der nur durch Zweifeln, Denken und Neuerkennen entstehen kann. Im schlimmsten Fall verfällt der Mensch der Versuchung, eingeübte Ungerechtigkeit nicht mehr als solche zu erkennen und zum ärgsten Widersacher der Gerechtigkeit und damit Allahs zu werden.
Ein solches Verhalten beschreibt der Koran als „taqliid“. Wir würden diesen Begriff heute als Nachahmung beschreiben. Er leitet sich von einem Wort ab, mit dem früher das Zaumzeug der Kamele bezeichnet wurde. Ein Nachahmer, ein „muqallid“, ist also jemand, der sich blind, ohne zu denken von anderen leiten lässt, anderen nur noch hinterherläuft, ohne seine eigene Richtung, sein eigenes Ziel zu bestimmen.
Das Gegenteil ist „tahqiiq“. Dieser Begriff leitet sich von dem Wort „haqq“ ab – einer der im Koran am häufigsten auftauchenden Begriffe und einer der Namen Allahs. „Haqq“ ist das Rechte, die Gerechtigkeit, das Wahre, das Richtige. „Haqq“ ist das Ergebnis der verständigen Suche, der Abwägung mittels Verstand und Gewissen. „Haqq“ ist das Resultat einer auf Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit geprüften Annahme, also einer rational und ethisch zur Gewissheit erstarkten Ahnung – und eben keine impulsive Nachahmung.
Auf diesen Grundgedanken ist auch zurückzuführen, dass der Islam im Grunde keine rein traditionell wirksame Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft kennt. Jede rituelle, traditionelle Handlung kann nur ein Auftakt, ein erster Schritt menschlichen Handelns sein. Sie bleibt unvollkommen, wenn sie nur Nachahmung, nur „taqliid“ bleibt. Eine Taufe oder Beschneidung etwa, die dem Betroffenen bloß passiert, ist in diesem Sinne ungenügend. Der Muslim muss rational wissen, wozu er sich bekennt. Er muss zusätzlich von diesem Wissen, ethisch und emotional – quasi von Herzen – überzeugt sein. Dieser so als „tahqiiq“ durchlaufenen bewussten, rationalen und ethischen Selbstprüfung tritt der Moment des Rituell-Traditionellen schlussendlich nur noch als Außenwirkung hinzu.
All dies ist keine bloß geistige oder theoretische Auseinandersetzung. Es ist kein akademisches Sinnieren über koranische Begriffe. Es ist die koranische Grundvoraussetzung menschlichen Handelns: Die stetige Selbstprüfung, ob die eigenen Anschauungen, tradierten Muster, praktizierten Bräuche, ob die als vorbildlich betrachtete eigene Kultur, ob Selbstverständlichkeiten des religiösen und alltäglichen Lebens, ob schlechthin jedes Handeln überhaupt je oder immer noch dem Anspruch der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit für alle Menschen dienen kann, also für alle Menschen gleichsam wahr, gut, gerecht und richtig ist. Wir finden hier – in der Wüste Mekkas – einen universellen Imperativ offenbart, den wir nachzuformulieren erst mehr als 1000 Jahre später in der Lage gewesen sind. (hm)