A‘uudhu bi-llahi mina sch-schaitaani r-radjiim. Bi-smi llahi r-rahmani r-rahim. Mit diesen Worten leiten wir Muslime die Rezitation von Koranversen ein. Sei es während des Ritualgebetes fünfmal am Tag, sei es bei Feiertagsgottesdiensten oder wenn wir ganz einfach den Koran zur Hand nehmen und anfangen, darin zu lesen.Diese Praxis geht zurück auf den Koranvers in der Sure An-Nahl – Die Biene (16, 98). Dort heißt es: „Und wenn du den Koran liest, so suche Zuflucht bei Allah vor Schaitan, dem Verworfenen.“
Zu dem Begriff des Schaitan gibt es ganze Bibliotheken voller Literatur. Was der Unterschied zwischen Schaitan und Iblis ist, ob Schaitan ein existentes Wesen ist oder nur die Taten des Iblis mit dieser Formulierung beschrieben werden, darüber haben sich jahrhundertelang viele Gelehrte Gedanken gemacht und in diversen Schriften über die richtige Deutung des Schaitan gestritten.
Für uns, in einem kurzen Freitagswort, ist wichtig festzuhalten, dass mit Schaitan jemand oder etwas gemeint ist, das Adam und Eva zum Übertritt eines göttlichen Gebots bewegt. Beide werden durch Schaitan in die Versuchung geführt, sich gegen Allah aufzulehnen. Sie werden mit dem Versprechen Schaitans gelockt, zu den Ewiglebenden zu gehören (vgl. 7,20). Schaitan verspricht ihnen eine „Herrschaft, die nicht vergeht“ (vgl. 20,120).
Es ist also in einem gewissen Sinne eben jener Hauch Allahs, der dem Körper des Adam Leben schenkt, sein Wesen bestimmt, seine Schöpfung ausmacht, nachdem sich der Mensch sehnt. Und diese Sehnsucht ist gleichzeitig die Anfälligkeit des Menschen gegenüber der Kraft des Schaitan.
Die Offenbarung des Koran kennt allerdings keine ewige Sünde, mit welcher der Mensch gezeichnet wäre. Allah vergibt Adam und Eva. Er vertreibt sie nicht aus dem Paradies. Er bestraft sie nicht, er sendet sie herab. Es geht Allah nicht darum, uns zu zeichnen. Er erwartet aber, dass wir uns unserer Anfälligkeit bewusst sind. Und er bietet uns an, Zuflucht bei ihm zu suchen und zu finden.
Damit wird deutlich, dass in der islamischen Offenbarung diese Schilderungen nicht nur von Ereignissen berichten, sondern gleichzeitig auch von Zuständen, denen wir Menschen schöpfungsbedingt unterworfen sind.
Wir sollen uns durch die Rechtleitung des Koran bewusst werden, dass wir zwiespältige, hin und hergerissene Wesen sind. Wir sind fehlbar. Absolute Zustände sind unserer Schöpfungsnatur fremd und nach ihnen sollen wir Menschen nicht streben.
Die Beschreibung des Schaitan, also der ewigen Versuchung des Menschen zur Auflehnung gegenüber Allah, wird im eingangs zitierten Vers mit „radjiim“ präzisiert. Übersetzt wird diese Formulierung des Koran häufig mit „der Vertriebene“ oder „der Verworfene“ oder „der Gesteinigte“.
Diese Beschreibung findet sich wieder in unserem Ritual der Pilgerfahrt, wenn wir Zuflucht bei Allah suchen und symbolisch den Weg Adams nachempfinden: Wenn wir zum spirituellen Höhepunkt der Pilgerfahrt am Arafat vor Allah treten, um Rechenschaft abzulegen, uns unserer Vergänglichkeit am bewusstesten sind und quasi wie Adam von Allah hin zur Erde zurückkehren.
Auf diesem Weg, zurück vom Arafat nach Muzdalifa und von dort nach Mina wandern wir und sind uns bewusst, dass uns bis zum Tod immer wieder die Fähigkeit zur Auflehnung, das Streben nach nie vergehender Herrschaft begleiten wird, solange wir auf der Erde schreiten. Und in diesem Moment vollziehen wir die symbolische Steinigung des Schaitan, wenn wir kleine Steine auf die Djamarat al-Aqaba werfen. In dem Moment machen wir uns bewusst, dass wir stets Zuflucht bei Allah suchen müssen.
Das heißt, als Muslime können wir nicht von der Vorstellung ausgehen, dass wir mit guten Taten Boni bei Allah sammeln und mit schlechten Taten in seiner Schuld stehen. Es geht nicht darum, durch vermeintlich frommes Verhalten Bonuspunkte zu sammeln und in der Frömmigkeit besser zu sein als unser Nächster. Denn auch in einer solchen Vorstellung ist bereits die Versuchung des Exzesses angelegt. Der Drang, in Fragen des Glaubens vollkommen zu sein, besser zu sein als andere. Und gleichzeitig die Anmaßung der Herrschaft über andere, wenn Menschen für sich die Macht beanspruchen, über die tatsächliche oder vermeintliche Frömmigkeit eines anderen Menschen zu urteilen oder über sein Leben bestimmen zu können.
Aber das Leben ist kein Wettkampf mit anderen. Es ist das Wissen darum, dass in uns eine Kraft wirkt, ja in uns angelegt ist, die uns zum Zweifeln und zum Aufbegehren drängt. Diese Kraft macht uns erst zu den ambivalenten Wesen, die wir sind. Denn diese Kraft ist in ihrer Natur sowohl schöpferisch, als auch zerstörerisch. In ihren besten Momenten drängt sie uns, Neues zu denken und zu gestalten, den schöpferischen Akt unseres Schöpfers in bescheidensten Ansätzen nachzuahmen und so zu erahnen, welche unstillbare Sehnsucht nach dem, der uns erschaffen hat, in uns wirkt.
Und vor der zerstörerischen Seite in uns, vor der Anmaßung, vor unserer Hybris, vor unserem Machtstreben suchen wir Zuflucht bei Allah. Dieser Gedanke ist zusammengefasst in den letzten beiden Suren des Koran. Quasi als letzte Mahnung, als letzte Hilfestellung an uns Menschen, in jedem Moment unseres Lebens unser Handeln zu hinterfragen und Zuflucht bei Allah zu suchen:
„Sprich: ‚Ich nehme Zuflucht beim Herrn der Morgendämmerung, vor dem Übel dessen, was Er erschaffen, und vor dem Übel der Nacht, wenn sie sich verbreitet, und vor dem Übel derer, die auf die Knoten blasen, und vor dem Übel des Neiders, wenn er neidet.‘“ (113, Al-Falaq – Die Morgendämmerung),
„Sprich: ‚Ich nehme meine Zuflucht beim Herrn der Menschen, dem König der Menschen, dem Gott der Menschen, vor dem Übel des schleichenden Einflüsterers – der da einflüstert in die Herzen der Menschen – unter den Djinn und den Menschen.‘“ (114, An-Nas – Die Menschheit). (by)