Wenn wir uns mit dem Koran als Quelle der uns anvertrauten Offenbarung Allahs beschäftigen, fällt uns auf, dass es bestimmte Formulierungen gibt, die sich häufig wiederholen. Hierzu zählt insbesondere auch der in ähnlichen wiederkehrenden Formulierungen erfolgende Hinweis auf den Verstand des Menschen und die Aufforderung, diesen zu gebrauchen.Stilistisch erfolgt dieser Hinweis häufig in Gestalt einer rhetorischen Frage: „Denkt ihr denn nicht nach?“ (vgl. 10,16 oder 3,65 oder 36,62), „Wollt ihr denn immer noch nicht euren Verstand nutzen?“ (vgl. 11,51 oder 21,10), „Nutzt ihr immer noch nicht euren Verstand?“ (vgl. 12,109 oder 23,80 oder 28,60).
Dem Verstand und der Anwendung des Verstandes misst Allah demnach eine entscheidende Bedeutung in der Lebenswirklichkeit des Menschen zu. Betont wird diese Gewichtung gerade auch in jenen Versen, welche die Erschaffung Adams und seine besondere Stellung in der Schöpfung beschreiben. Adam ist nicht nur ein sich seiner Existenz bewusstes Wesen. Er ist mit jenem Verstand ausgestattet, dessen Anwendung Allah als Schlüssel zum Verständnis der Offenbarung beschreibt (vgl. 2,242).
Was Adam gegenüber den anderen durch Allah erschaffenen Wesen auszeichnet, ist die Tatsache, dass Allah Adam die Namen all jener Dinge lehrt, die er erschaffen hat (vgl. 2,31). Und mehr noch: Adam verfügt nicht nur über den ihm von Allah verliehenen Verstand. Er nutzt diesen Verstand nicht nur, um die Namen aller erschaffenen Dinge zu lernen. An diesem Punkt der koranischen Schilderungen kommt eine weitere Eigenschaft Adams hinzu, über die uns Allah in seiner Offenbarung berichtet. Er konfrontiert Adam mit den von ihm zuvor erschaffenen Engeln. Doch nur Adam ist in der Lage vor Allah und den Engeln die ihm beigebrachten Namen der erschaffenen Dinge zu nennen (vgl. 2,32-33).
Adam nutzt seinen Verstand also nicht nur in stiller Reflexion, nicht nur in innerer Einkehr und Besinnung. Allah betont in seiner Offenbarung, dass Adam seine ihn auszeichnende Persönlichkeit vielmehr durch den Moment der freien Äußerung des ihm bekannten Wissens ausdrückt. Den Engeln ist dies im Kontext dieser Verse offenkundig nicht möglich.
Vor dieser Eigenschaft Adams, sich seines Verstandes selbständig zu bedienen und sein Wissen zu äußern, verneigen sich die Engel.
An dieser Stelle offenbart uns Allah eine besondere Wendung in seiner Offenbarung. Es ist der Engel Iblis, der sich weigert, sich vor Adam zu verbeugen. Ihm, also Iblis, geht es nicht um die Fähigkeit Adams, nicht um das Wissen und die Kundgabe dieses Wissens durch die gesprochenen Worte Adams. Iblis geht es um die Eigenschaft seiner Stärke. Er ist aus Feuer erschaffen, Adam hingegen aus Lehm. Äußere Macht, faktische Stärke will sich nicht vor dem Wort, das Wissen ausdrückt, verbeugen. Allah wertet dieses Verhalten als bewusste Abkehr von der Erkenntnis seiner Realität (vgl. 2,34).
Der in den Lehm der menschlichen Schöpfung eingehauchte Geist Allahs (vgl. 38,72) wird durch die Anwendung des dem Menschen verliehenen Verstandes weltliche Realität. In dem Moment, in dem dieser Verstand sich im gesprochenen Wort ausdrückt, erlangt er durch die Luft, die wir in unserer Kehle und in unserem Mund zu Worten formen, konkrete Gestalt in der Welt. Vielleicht ist auch dies gemeint, wenn Allah uns vergewissert, dass er uns näher ist, als unsere Halsschlagader. (vgl. 50,16).
Was sonst wäre uns näher, als die Luft, die Allah uns einatmen lässt und die wir beim Ausatmen zum Boten unseres Verstandes werden lassen, den er uns eingehaucht hat?
Dabei weiß Allah um unsere Schwäche. Er weiß um unsere Fehlbarkeit. Er weiß um die Tatsache, dass wir irren können. Aber dennoch ermöglicht er uns immer wieder aufs Neue, uns durch unseren Verstand und unsere Meinungen, mit denen wir unserem Verstand Erkennbarkeit und Bedeutung geben, ihn in der Welt wahrzunehmen und uns für das Gute und Schöne in der Welt und für alle Menschen einzusetzen. So hoch ist der Wert, der uns von ihm verliehenen Fähigkeit, unseren Verstand durch unsere Stimme in die Welt zu tragen, dass er auch jeden Irrtum zu verzeihen bereit ist, den wir in der Anwendung dieser Freiheit begehen.
Anders ausgedrückt: Die Meinungsfreiheit ist der unmittelbarste Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit, der Eigenschaft, ein von Allah erschaffenes Wesen zu sein, das sich von allen anderen Schöpfungen Allahs gerade durch diese Freiheit unterscheidet. Jeder Versuch, diese Freiheit zu leugnen, ihre Ausübung in unzulässiger Weise zu verhindern, ist die Auflehnung des sich mächtig wähnenden Feuers gegen die von Allah erschaffene Realität des Menschen.
Wo diese Freiheit des Menschen, Mensch zu sein, willkürlich verhindert wird, wo also der Verstand daran gehindert wird, hörbar in die Welt zu treten, kann sich kein Wissen verbreiten. Dort aber, wo der ständig wiederholten Frage Allahs „Wollt ihr denn euren Verstand nicht benutzen?“ immer wieder nur mit der Unterdrückung der Meinungsfreiheit, mit Denk- und Sprechverboten begegnet wird, versinkt der Mensch in einer selbstverschuldeten stummen Dunkelheit. Egal, wie hochlodernd er die Flammen seiner weltlichen Macht auch scheinen wähnt. (hd)