„Sprecht: Wir glauben an Gott und an das, was zu uns herabgesandt wurde, und an das, was herabgesandt wurde zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen, und an das, was Mose und Jesus zugekommen ist, und an das, was den anderen Propheten von ihrem Herrn zugekommen ist. Wir machen bei keinem von ihnen einen Unterschied. Und wir sind Ihm ergeben.“ So steht es in Sure 2, Vers 136 des Koran.
Der letzte Satz dieses Verses lautet im arabischen Original „ve nahmu lehu muslimune“. Das heißt, die aufrichtige Haltung, Gott gegenüber ergeben zu sein, sich mit seinem Antlitz Gott zugewandt zu haben, wird als „muslimune“, also als „muslimische“ Eigenschaft beschrieben. Muslimische Frömmigkeit wird somit als eine authentische, eine aufrichtige und wahrhaftig empfundene Ergebenheit beschrieben, die sich in der Haltung des Menschen, in seinem Wesen und seinem Verhalten, manifestiert.
Die formale Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, das Bekenntnis zum Islam selbst, ja sogar eine fleißige Einhaltung vieler Gebote und Verbote des Islam reicht zu einer Frömmigkeit im Sinne des Koran nicht aus. Gott ergeben zu sein, drückt sich nicht in Äußerlichkeiten aus. Der Koran betont dies an einer anderen Stelle. In Sure 49, Vers 14 heißt es: „Die arabischen Beduinen sagen: ‚Wir glauben.‘ Sprich: Ihr glaubt nicht wirklich. Sagt vielmehr: Wir sind Muslime geworden. Der Glaube ist ja noch nicht in eure Herzen gedrungen. Wenn ihr aber Gott und seinem Gesandten gehorcht, verringert Er euch nichts von euren Werken. Gott ist voller Vergebung und barmherzig.“
Die Offenbarung Gottes unterscheidet in diesen Versen zwischen einem Bekenntnis zum Islam, also der formalen Eigenschaft, Muslim zu sein und der Frömmigkeit, die in die Herzen gedrungen ist, also einer als verpflichtend empfundenen, innerlich mit Überzeugung gelebten Ergebenheit in Gott. Diese Ergebenheit ist eine sich täglich wiederholende, ständig zu erfüllende Prüfung des Menschen.
Kein Amt, keine Funktion, keine Stellung und kein Titel vermögen diese höchstpersönliche Verpflichtung jedes einzelnen Muslims zu ersetzen. Niemand kann sich aufgrund seiner formalen Bedeutung innerhalb der muslimischen Gemeinschaften eine höhere Frömmigkeit oder Tugendhaftigkeit oder Gottergebenheit anmaßen. Dies sind Eigenschaften, die sich im persönlichen Handeln des Menschen ständig neu herausbilden und wirksam werden müssen. Die Gottergebenheit ist eine ständige und stetige Prüfung des Menschen, welche ihm Bescheidenheit und Demut abverlangt.
Ob der Glaube in das Herz eines Menschen gedrungen ist und dort täglich wirksam wird, hat nichts damit zu tun, ob er eine wichtige Funktion bekleidet, ein herausragendes Amt ausübt oder einen angesehenen Titel trägt. Mit der Frage der Aufrichtigkeit und der ehrlichen Demut vor Gott bleibt sich jeder selbst überlassen, ist jeder auf sein innerstes Ich, auf sein nacktes, unverstelltes Gewissen zurückgeworfen.
Wir erleben immer wieder, wie viele Menschen diese höchstpersönliche und tagtägliche Prüfung ihres innersten Wesens scheuen. Sie fliehen vor dieser Konfrontation mit sich und ihrem Gewissen. Stattdessen versuchen sie, durch die Anschuldigung anderer, durch die Denunziation und Verleumdung anderer, ihre vermeintliche Bedeutung und scheinbare Frömmigkeit zu untermauern.
Sie fürchten sich vor der Rechenschaft, die sie in ihrem Innersten ablegen müssen und flüchten sich in die äußere Ausgrenzung und Herabwürdigung Dritter. Der vermeintliche Makel, den sie bei anderen entdeckt zu haben vorgeben und den sie bloßgestellt zu haben sich als Verdienst zuschreiben, kann aber kaum verschleiern, auf welchen Irrweg sie sich in Wirklichkeit begeben haben.
Es ist ein Irrweg, den Gott in seiner Offenbarung in eindringlichen Worten beschreibt. In Sure 49, Vers 12 heißt es dazu: „O ihr, die ihr glaubt, meidet viel von den Mutmaßungen. Manche Mutmaßung ist Sünde. Sucht nicht, einander auszukundschaften und führt nicht üble Nachrede übereinander. Möchte denn einer von euch das Fleisch seines Bruders, wenn er tot ist, essen? Es wäre euch doch zuwider. Fürchtet Gott. Gott wendet sich gnädig zu und ist barmherzig.“
Mit diesem drastischen Bild erinnert uns die Offenbarung daran, welche abstoßende Wirkung die Unaufrichtigkeit, die Verleumdung und die üble Nachrede haben können. Es ist das abschreckende Bild der Hind bint Utbah, die sich von Hass geblendet über den verstümmelten Leichnam Hamzas beugt und in seine Leber beißt.
Möge Gott uns vor jenen behüten, die nicht davor zurückschrecken, sich an dem Namen, dem Ruf und der Existenz anderer Menschen zu versündigen.
Möge Gott uns vor jenen behüten, die eigentlich ein Vorbild für die muslimischen Gemeinschaften sein müssten, deren tatsächliches Verhalten aber bloß dazu geeignet ist, Abscheu zu verursachen und dadurch den Glauben in den Herzen der Menschen zu schwächen und zu schmälern. (mk)