Wir durchleben sehr unterschiedliche Phasen in unserem Leben. Wir werden geboren, wachsen heran, viele von uns gründen Familien und bekommen Kinder. Unsere Lebensläufe sind sehr verschieden, wir alle schauen ganz unterschiedlich in die Zukunft, jeder auf unsere eigene Art. Familie, Beruf, Freundeskreis, unsere Freizeitbeschäftigungen binden uns alle, vereinnahmen uns.
Oft vergessen wir dabei gerade die zwei Menschen, ohne die es diese ganzen Lebensläufe und alles drum herum gar nicht gegeben hätte: unsere Eltern. Es ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr, dass Eltern und Kinder ein ganzes Leben in einem Haus verbringen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass mit Aufnahme des Studiums oder einer Berufsausbildung oder der Gründung einer Familie Eltern und Kinder sogar nicht einmal in ein und derselben Stadt leben.
Die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern gehört zu den zwischenmenschlichen Beziehungen, die im Koran eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Dabei belässt es der Koran jedoch nicht nur bei der Darstellung von Rechten und Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern. Auch die Haltung der Kinder gegenüber ihren Eltern wird dort aufgegriffen.
“Und Wir geboten dem Menschen Güte gegen seine Eltern.” (29:8)
Das Gebot der Güte ist dabei keine einfache Empfehlung oder Lebensweisheit. In einem anderen Vers wird die Güte gegenüber den Eltern direkt nach der Anbetung Gottes angeführt.
“Dein Herr hat bestimmt, daß ihr Ihn alleine anbeten sollt und daß ihr gegen eure Eltern gütig seid, auch wenn der eine von ihnen oder beide bei dir ins hohe Alter kommen. Sag daher nicht »Pfui!« zu ihnen und schelte sie nicht, sondern rede mit ihnen auf ehrerbietige Weise. Und bedecke sie demütig mit den Flügeln der Barmherzigkeit und bitte: »O mein Herr! Erbarme dich beider so (barmherzig), wie sie mich aufzogen, als ich klein war!« (17:23-24)
Die Zwänge und Notwendigkeiten unserer Zeit erschweren die Erfüllung dieses Gebotes. Insbesondere die immer häufiger vorkommende räumliche Distanz macht die persönliche Begegnung nicht leicht. Sie gibt uns aber auch genügend Mittel und Möglichkeiten auf den Weg mit, diese Nähe anderweitig zu kompensieren. Nicht nur, dass wir sie schriftlich und telefonisch erreichen können, gerade die Video-Telefonie ermöglicht uns fast ein Gespräch Angesicht zu Angesicht.
Doch ist das tatsächlich schon genug? Wäre uns dies denn selbst als Eltern genug? Schauen wir doch selbst zu unseren Kindern, schauen wir in ihre Gesichter, in denen wir die Gesamtheit unserer Liebe und Zuneigung für sie sehen können. Wie lange können wir ohne diesen Anblick auskommen? Fühlen wir nicht schon eine heftige Sehnsucht, wenn wir aufgrund einer Reise einige Tage von ihnen getrennt sind. Und macht es wirklich einen Unterschied, ob sie älter geworden sind oder noch im zarten Kleinkindesalter sind? Nein, die Liebe, die Zuneigung, die Sehnsucht in ihrer Abwesenheit bleibt gleich. Nicht anders ergeht es sicherlich unseren eigenen Eltern in unserer Abwesenheit.
Der Ramadan bietet uns neben vielem Anderen auch die Möglichkeit, den persönlichen Kontakt zu unserer Eltern zu suchen. Trotz aller physischer Distanz sollten wir doch versuchen, mindestens einen Iftar mit ihnen zu verbringen, dabei nicht einfach das Fasten mit ihnen zu brechen, sondern auch die Erinnerungen und die Wärme der Familie mit ihnen zu teilen. Spätestens zum Ramadan-Fest sollten wir auf jeden Fall bei ihnen sein, gemeinsam das Feiertagsgebet aufsuchen, die Ersten sein, die ihnen zum Fest gratulieren. Und beten sollen wir für sie, in ihrer Anwesenheit und noch mehr in ihrer Abwesenheit: “O mein Herr! Erbarme dich beider so (barmherzig), wie sie mich aufzogen, als ich klein war!” (ek)