Wir müssen aufhören, aus Mitmenschen „Behinderte“ zu machen

650 Millionen Menschen weltweit. Das sind 10% der Weltbevölkerung. Damit ist diese Gruppe weltweit die größte Minderheit. Es handelt sich um Menschen mit Behinderung. Allein in Deutschland leben etwa 10 Millionen Menschen mit Behinderungen, davon etwa 7 Millionen mit einer Schwerbehinderung. Das heißt, dass etwa jeder zehnte Mensch in Deutschland behindert ist. Diese Zahl wird größer werden. Mit zunehmendem Alter wird die Zahl der behinderten Menschen ansteigen. Jeder Dritte von Menschen über 75-Jahren lebt mit Behinderungen.

Warum ist uns diese Zahl im Alltag nicht bewusst? Weil Menschen mit Behinderung häufig am Rand der Gesellschaft leben, von einer aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, in der Mitte der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Diese Menschen haben es schwerer, eine gute Bildung zu erhalten, sich im Alltag frei zu bewegen, ohne Einschränkungen Orte ihrer Wahl aufzusuchen. Sie haben es schwerer, Arbeit zu finden, selbst wenn sie dafür qualifiziert sind.

Warum ist das so? Weil wir viel zu oft davon ausgehen, dass eine Behinderung ein Makel, ein Defizit ist, das der betroffene Mensch durch eigene Anstrengung selbst überwinden muss, um sich unserem gesellschaftlichen Leben anzupassen. Dabei ist eine Behinderung häufig nur deshalb eine Einschränkung, weil wir die Bedürfnisse behinderter Menschen in der Gestaltung unseres Alltages nicht berücksichtigen. Ein Mensch, der im Rollstuhl sitzt, wird aber nur dann „behindert“, wenn wir eine Treppe bauen, statt einer Rampe. Ein gehörloser Mensch wird nur dann „behindert“, wenn wir mit ihm reden, statt ihm etwas aufzuschreiben. Ein blinder Mensch wird nur dann „behindert“, wenn wir ihm einen Text in die Hand drücken, statt mit ihm zu reden.

Das heißt, durch die Hindernisse und Barrieren, körperliche wie geistige, die wir in unserem Alltag errichten, schließen wir Menschen davon aus, an diesem Alltag teilzunehmen. In diesem Sinne sind sie eigentlich nicht “behindert”, sondern wir sind es, die sie behindern.

Als Muslime müssen wir uns aber die Frage stellen, wie wir unser Verhalten ändern können, damit jeder Mensch in unserer Gesellschaft in gleicher Weise am Leben teilhaben kann.

Es ist ein oft anzutreffender menschlicher Irrtum, eine Behinderung als eine Art Strafe zu verstehen. Ein solcher Gedanke darf unter Muslimen keinen Platz haben. Gott hat uns alle in gleicher Weise, nämlich mit der Fähigkeit und der Herausforderung, uns Gott zuzuwenden, erschaffen. Jeder von uns muss sich in seinem Leben in gleicher Ergebenheit Gott zuwenden.

Jeder von uns wird im Leben auf unterschiedlichste Weise geprüft. Mancher durch Krankheit und wie er damit umgeht, mancher durch Gesundheit und was er draus macht, mancher durch Armut und wie er sie erduldet, mancher durch Reichtum und wofür er ihn einsetzt. Aber niemand ist besser als der andere. Es ist Iblis, der sich dem Gebot Gottes widersetzt und sich vor Adam nicht verbeugen will: „Er sprach: ‚Was hat dich daran gehindert, dich niederzuwerfen, als Ich es dir befohlen habe?‘ Er sagte: ‚Ich bin besser als er. Du hast mich aus Feuer erschaffen, ihn aber hast Du aus Ton erschaffen.‘“ (Sure 7, Vers 12).

Der Glaube, man sei durch seine körperliche Stärke oder Überlegenheit besser als jemand mit einer Behinderung, ist Ausdruck von Ignoranz und Hochmut und gewiss kein rechter Weg für uns Muslime. Denn wer kann sich denn sicher sein, dass er nicht in der nächsten Minute durch ein Unglück, durch eine Krankheit, durch einen Schicksalsschlag in eine Situation gerät, in der ihm plötzlich Hindernisse im Weg stehen, die er früher nicht als solche erkannt hat? Plötzlich kann er derjenige sein, der von einem Leben ausgeschlossen wird, das er früher als selbstverständlich empfand.

Gott ermahnt uns, dankbar dafür zu sein, als wir in Zeiten der kindlichen Schwäche und Bedürftigkeit von unseren Eltern gepflegt wurden. Diese Bedürftigkeit kann sich im Alter wandeln und nun sind wir dazu berufen, in ähnlicher Weise ihnen Hilfe und Achtung entgegen zu bringen: „Und dein Herr hat bestimmt, dass ihr nur Ihm dienen sollt, und dass man die Eltern gut behandeln soll. Wenn eines von ihnen oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sag nicht zu ihnen: ‚Pfui!‘ und fahre sie nicht an, sondern sprich zu ihnen ehrerbietige Worte.“ (Sure 17, Vers 23)

Es muss also unsere Aufgabe sein, allen Menschen zu helfen, die aus welchen Gründen auch immer nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit am Leben teilnehmen können wie wir.

Wir müssen – angefangen in unseren Gemeinden, in unseren Moscheen – Hindernisse abbauen, die Menschen den Zugang zu unserem Leben, zu unseren Gemeindehäusern erschweren oder gar unmöglich machen. Denn es ist auch ihr Leben und es sind auch ihre Gemeindehäuser. Diese Hindernisse können ganz handfester Art sein, wie Treppen, Türen, die Beschaffenheit unserer Waschräume, der Zugang zu unserem Gebetsraum oder sonstige bauliche Barrieren. Aber es können auch Hindernisse in unseren Herzen sein. All diese Barrieren müssen wir überwinden.

Wenn Gott uns alle als Menschen erschaffen hat und uns allen die gleiche Verantwortung und Aufgabe mitgegeben hat, müssen wir jeden Tag dafür streiten, dass auch jeder von uns in gleicher Weise, ungehindert an diesem Leben teilhaben kann. Wir müssen alle Barrieren und Hindernisse beseitigen, die aus unseren Mitmenschen erst „Behinderte“ machen. Damit müssen wir unverzüglich beginnen, denn „Gott fordert von niemandem mehr, als er vermag.“ (Sure 2, Vers 286)  (mk)