Wenn heutzutage Muslime zusammenkommen und sich über ihre gegenwärtige Situation in der Welt unterhalten, bleibt eines in der Regel nicht ausgespart: das Klagen über die mangelnde Einheit der Umma. Fast schon gebetsmühlenartig wird immer wieder beanstandet, wie unfähig doch die eigenen Glaubensgeschwister seien, selbst in wesentlichen Fragen einen gemeinsamen Nenner zu finden oder anderen gegenüber geschlossen aufzutreten.
Ob eine Gemeinschaft, in der jeder einhellig dieselbe Meinung vertritt, überhaupt möglich oder gar wünschenswert ist, sei einmal dahingestellt. Bezeichnend ist aber, dass dieses Streben nach Einheit im gemeinschaftlichen Sinne häufig seine Entsprechung auch im Bewusstsein vieler einzelner Muslime findet – nämlich in Gestalt eines unbeirrbaren Strebens nach Eindeutigkeit im Glauben.
Nicht selten gehen wir davon aus, dass es auf jede Frage, die sich uns im Leben stellt, unbedingt eine eindeutige (islamische!) Antwort geben muss. Unsere Aufgabe als Muslime scheint demnach klar vorgegeben zu sein: wir müssen uns möglichst viel Wissen aneignen, damit wir eines Tages mit Gottes Hilfe eben jene Antwort finden können. Solange wir nicht an diesem Punkt angekommen sind, gelten wir in unseren eigenen Augen als unvollkommen. Die noch nicht erreichte Klarheit im Glauben und die Widersprüchlichkeiten in unserem Denken erachten wir als Anzeichen eines defizitären und daher zu überwindenden Zustands.
Dabei sind es genau solche Widersprüchlichkeiten, die unseren Glauben nicht nur lebendig halten, sondern ihn vielmehr im Kern ausmachen. Lässt man sie nämlich zu, begibt man sich zwangsläufig in einen Prozess der bewussten Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten. Während das Streben nach Eindeutigkeit auf eine in sich widerspruchsfreie Lehre abzielt, veranlassen uns unsere Widersprüchlichkeiten dazu, unentwegt über unseren Glauben nachzudenken und ihn zu reflektieren. Natürlich ist es leichter und vor allem bequemer, die Wirklichkeit aus einem geschlossenen Weltbild heraus zu betrachten und sie sich dort, wo es nicht passt, einfach zurechtzubiegen. Schlussendlich müssten wir uns dann aber in einer völlig weltfremden Form der Religiosität verschanzen. Diese mag uns zwar ein Gefühl der Sicherheit geben. Nur hätte sie darüber hinaus überhaupt keinen Bezug zu unserer Lebenswirklichkeit mehr.
Ein islamisches Leben zu führen heißt aber eben nicht, sich der Wirklichkeit zu verschließen und es sich im Gefühl der Sicherheit irgendwie bequem zu machen. Ohnehin dürfte ein solches Gefühl für uns keinen Wert an sich darstellen. Denn wie uns der Koran in Sure Yunus, Vers 36, lehrt, kann es sich bei unseren vermeintlichen Gewissheiten durchaus auch um „bloße Mutmaßungen“ handeln. Noch wichtiger ist aber, dass wir als Muslime dazu verpflichtet sind, in einen direkten Austausch mit der Wirklichkeit um uns herum zu treten, sprich: mit offenen Augen durch das Leben zu gehen sowie grundsätzlich eine dem Leben und der Schöpfung gegenüber aufgeschlossene Haltung einzunehmen. Zweifellos wird die eine oder andere unserer Gewissheiten dadurch ins Wanken geraten. Wenn unser Glaube dem jedoch nicht standhält, so darf die Lösung nicht sein, die Welt um uns herum pauschal zu verurteilen. Gerade solche Momente, in denen nämlich das Leben im Widerspruch zu unseren Überzeugungen zu stehen scheint, sind es, die unsere Religion zu einer tatsächlich gelebten und, ja, auch unmittelbar erlebten machen. Anstatt uns also diesem Spannungsfeld zwischen Glaube und Lebenswirklichkeit zu entziehen, sollten wir uns der damit verbundenen Unsicherheit bewusst stellen. Sie gibt uns die Gelegenheit, unseren Glauben ebenso wie unser Leben, vor allem aber deren Verhältnis zueinander, aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten.
Mehrdeutigkeiten, offene Fragen, das gelegentliche Hin- und Hergerissensein und, ja, auch Zweifel, die uns manchmal heimsuchen, zeugen keineswegs von einem schwachen, sondern im Gegenteil von einem starken Glauben. Nicht umsonst betont der Koran immer wieder die Wichtigkeit von Gottvertrauen (tawakkul) und zählt es zu den wesentlichen Charaktereigenschaften von Gläubigen. So heißt es im zweiten Vers der Sure al-Anfal: „Die Gläubigen, das sind jene, deren Herzen erzittern, wenn Gott genannt wird, und deren Glaube zunimmt, wenn ihnen Seine Verse vorgetragen werden, und die auf ihren Herrn vertrauen.“
Rechtgeleitet zu sein heißt also nicht, auf alles eine Antwort haben zu müssen, sondern sich in tiefstem Vertrauen auf Gott hin und wieder auch auf dünnes Eis zu begeben.
Tagtäglich beten wir mit der Sure al-Fatiha, Vers 6, zu Allah, er möge uns auf den „geraden Weg“ führen. Dieser ist aber nun einmal ein Weg und kein Fixpunkt, an dem wir den Islam endlich richtig verstanden haben werden. Anstatt also in unserem Sicherheitsgefühl zu verweilen, sollten wir uns trauen, die schwierige Reise auf diesem Weg anzutreten.