Jedes Jahr um die Wintersonnenwende, wenn die kürzesten Tage des Jahres uns mit Kälte, Nebel und Dunkelheit umhüllen, zünden Christen Kerzen an und Gedenken der Geburt Jesu. Und jedes Jahr um die Weihnachtszeit fragen sich Christen und Muslime im interreligiösen Miteinander, was denn die Stellung Jesu im Islam sei. Die Antwort ist: Jesus ist ein Prophet Allahs, so wie Muhammad (sas) auch. Daraufhin kommt die Frage: Was sagt denn der Koran zu Jesus? Zu seiner Kreuzigung? Zu seiner Auferstehung? Zu seinen Wundern? Das sind berechtigte Fragen. Allah spricht im Koran aber nicht nur zu den Fragen, die wir uns heute stellen. Er hat anderes und mehr zu sagen.
Wenn wir den Koran – ohne vorformulierte Fragen – lesen, werden wir Folgendes bemerken: Maria (Maryam) erhält im Koran viel mehr Aufmerksamkeit als Jesus. Sie ist die Protagonistin der koranischen Erzählung, nicht Jesus.
Wa-dhkur fi-l-kitaabi Maryama: “Und gedenke im Buch der Maria” (19:16). Mit diesen Worten beginnt die Maria-Erzählung im Koran. Mit ihnen spricht Allah den Propheten Muhammad (sas) an und teilt ihm mit, dass er die Geschichte Marias verkünden soll. Ganze 70 Verse beziehen sich auf Maryam, deren Name in 34 Versen erwähnt wird. Im Vergleich dazu wird der Name des Gesandten Muhammad nur drei Mal im Koran genannt. Maria ist eine ganze Sure (Sure 19) gewidmet und eine weitere Sure berichtet von ihrer Herkunft aus einer Prophetenfamilie (Sure 3/”Die Familie Amrams”).
Marias Rolle ist besonders hervorgehoben: Der Geist Allahs stellt sich ihr in Gestalt eines Menschen vor und spricht zu ihr. Dann sagt Allah: “Und Wir bliesen von Unserem ruh (Geist) in sie hinein und machten sie und ihren Sohn zu einem Zeichen für die Welten.” (21:91) Allah hauchte also seinen Atem in Maria ein, damit sie jungfräulich mit Jesus schwanger werden konnte. Dass heißt, sie wird von alleine, ohne einen Mann berührt zu haben, schwanger. Und so wie bei dieser unberührten Empfängnis durchläuft Maria alle wichtigen Stationen ihres Lebens ohne einen Mann oder einen männlichen Begleiter. Sie ist nicht einfach nur die Mutter des Propheten Jesus. Sie ist eine Frau, die aus sich selbst heraus und durch ihre Weiblichkeit existiert und wegen dieser unabhängigen Weiblichkeit von Allah ausgezeichnet wird. Und so kommt es, dass sämtliche Stationen in Marias Leben im Koran mit dem Mutterschoß (rahim) assoziiert sind, in der sich auf verschiedene Weise Allahs Barmherzigkeit (rahma) offenbart.
Dieses Motiv finden wir bereits in Marias Herkunft: Marias Herkunft wird nicht auf einen männlichen Vorfahren, sondern auf die Linie ihrer Mutter zurück geführt, womit sie zur Prophetenfamilie von Amram gehört. Die Familie Amrams steht gleichwertig neben der anderen Prophetenlinie, der von Abraham, im Koran. Die Verschränkung der göttlichen Barmherzigkeit mit der Herkunft von Propheten findet sich auch in der Erzählung von Abraham und Zacharias. Und diese Herkunft kommt durch das Gebären von Frauen, d.h. durch den Mutterschoß von Frauen zu stande. So ist auch Jesus eine Barmherzigkeit von Allah (19:21). Auf ähnliche Weise wird die Abstammung Jesu auf seine Mutter zurückgeführt, so dass sein Name „Jesus, Sohn Marias“ ist (dhaalika ‘Iisaa bnu Maryama, 19:34).
Nach Marias Geburt wird sie als Mädchen in den Tempel der Gottesmänner aufgenommen, obwohl dies nur ein männliches Privileg ist. Hier wächst sie unter der Obhut des Zacharias auf, verbringt ihre Zeit aber allein im Gebet.
In der Erzählung von Marias Empfängnis bleibt Maria selbst nicht sprachlos: Sie zieht sich an einen “östlichen Ort” zurück, wo sie mit dem Engel, der ihr in Menschengestalt erscheint, einen Dialog führt. So sagt sie: “Wie soll mir ein Junge gegeben werden, wo mich doch kein Mensch berührt hat und ich keine Hure bin?” (19:20).
Nach der Empfängnis zieht sich Maria mit dem Kind im Bauch (rahim) an einen weiter entfernten Ort zurück, wo sie von unter Wehen und Schmerzen sich zu einem Palmstamm begibt. Auch hier spricht Maria in Verzweiflung: “Wäre ich doch zuvor gestorben und ganz und gar in Vergessenheit geraten!” (19:23). Da spricht eine Stimme unter ihr – es ist nicht klar, ob es das Kind ist oder der Engel –, dass sie den Baum schütteln soll, damit sie die reifen, herabfallenden Datteln esse und sich von dem Bach, der sich unter ihr auftut, frisches Wasser trinke. Die Datteln und das Wasser kommen als Barmherzigkeit Allahs in ihrer verzweifelten Situation und bestärken das starke Bild der Weiblichkeit Marias, da sie für ihre Fruchtbarkeit und gleichzeitig für das Paradies stehen.
Marias Rückkehr zu ihrem Volk ist von Triumph geprägt. Auch in diesem Moment ist Maria nicht sprachlos, sondern selbst eine Handelnde und Sprechende. Während ihr Beschuldigungen über Hurerei entgegen geschleuert werden, spricht das Kind Jesus auf ihrem Arm zu den Leuten und verkündet, dass er ein Prophet Allahs sei (19:22-33). Damit bestätigt das Kind, dass Maria keine Hurerei begangen, sondern eine Offenbarung empfangen hat.
Die Frucht dieser Offenbarung ist der Mensch Jesus: “Der Messias Jesus, Sohn Marias, ist Allahs Gesandter und Sein Wort, das Er an Maria richtete” (4:171). Damit steht Maria auf Augenhöhe mit dem – männlichen Propheten – Muhammad, der ebenfalls seine Offenbarungen verkündet. Maria ist wie Muhammad frei von Sünden und sie ist von Allah auserwählt worden, eine Offenbarung auszutragen. Der Engel verkündet ihr die Botschaft, dass sie den Propheten Jesus austragen wird und anschließend wird sie vom “Geist” (ruh) Allahs befruchtet: “Wir hauchten von Unserem Geist in sie hinein” (66:12). Die Offenbarung Allahs wird damit als Barmherzigkeit (rahma) in ihren Mutterschoß (rahim) hineingelegt. Damit ist Maria eine weibliche Prophetin, von der Allah im Koran berichtet. Das Bild der schwangeren Frau, die allein durch sich selbst existiert, verweist auf Allahs Wirken in Seiner Schöpfung.