“Da trieb ihn seine Seele, seinen Bruder zu töten.
Und er tötete ihn.
So wurde er zu einem der Verlierer.” (Maida, 30)
Dieser Vers, er ist so schwer, so traurig und tragisch. Ein kurzer Vers, der viel Leid in sich birgt. Er lässt uns in einen Abgrund blicken, in den wir eigentlich nie blicken wollen. Wie böse kann denn unsere Seele werden, dass sie uns gar zum Mord an einem der uns Nächsten treiben kann?
Der Vers stammt aus der Schilderung des Gleichnisses von Kain und Abel im Koran, oder wie sie in der islamischen Tradition genannt werden, Habil und Qabil. Das Gleichnis gehört zu den gemeinsamen Themen von Koran und Talmud. Und selbst die Sumerer haben in einem sehr alten Mythos um ihren Bauerngott Enkimdu und ihren Jagdgott Dumuzi ein ähnliches Thema der brüderlichen Auseinandersetzung vor Tausenden von Jahren aufgegriffen. Das Gleichnis, die Mahnung die in ihm steckt, scheint so alt und so tiefgründig wie die Menschheit selbst zu sein.
Die Erzählung im Talmud ist im Vergleich zu der koranischen Version viel länger. Im Koran sind es gerade einmal fünf Verse, die von den beiden Brüdern handeln. Nicht einmal die Namen dieser Brüder werden erwähnt. Der Fokus der Darstellung liegt nicht auf den Namen der Beiden oder auf der Darlegung von Tatsachen. Der Koran transportiert eine Nachricht, eine Botschaft. Ihm geht es nicht um einen “Faktencheck” mit Blick auf die talmudische oder die sumerische Erzählung:
“Trag ihnen die Nachricht von den beiden Söhnen Adams vor,
Gemäß der Wahrheit,
Als die beide ein Opfer brachten.” (Maida, 27).
Gelehrte wie Razi, Bayzawi oder Zamachschari verstanden unter der Aufforderung, die Nachricht “gemäß der Wahrheit” vorzutragen, diese in einem “Kleid der Wahrheit und Weisheit wiederzugeben”, sie mit der “Weisheit zu vereinen” oder mit ihr den “Neid zu verurteilen”.
Denn um dieses Laster geht es in diesem kurzen Stück des Korans hauptsächlich. Der Neid ist der Abgrund, vor dem wir hier gewarnt werden, den wir auch in der eigenen Seele suchen sollen. Dieser Neid war es, der einen der Brüder jegliche Nähe zu seinem Opfer hat vergessen lassen. Der Neid war es, der seine Seele dermaßen verdarb, dass sie ihn zum Mord an seinem Nächsten getrieben hat.
Neid ließ Qabil Liebe und Barmherzigkeit für den Bruder beiseite schieben, seine Ohren und sein Herz vor den Warnungen seines Bruders verschließen. Habil weigert sich selbst in dem Moment größter Not, dem Beispiel seines Bruders zu folgen und die Hand gegen einen Menschen zu erheben. Es ist nicht nur die Liebe für den Bruder, es ist auch die Gottesfurcht, die ihn davon abhält:
“Wenn du nun nach mir deine Hand ausstreckst, um mich zu töten.
So will ich meine Hand doch nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten.
Siehe, ich fürchte Gott, den Herrn der Weltbewohner.” (Maide 28)
Der Koran skizziert uns hier modellhaft zwei menschliche Typen. Qabil, der sich innerlich seinen schlechten Haltungen und Vorstellungen hingibt, und Habil, bei dem selbst in Lebensgefahr das Streben nach dem Guten und dem Segensreichen überwiegen kann. Die Darstellung verfällt dabei jedoch nicht in Schwarz/Weiß. Bei Habil werden wir Zeuge seiner Reflexion, seiner Vergewisserung hinsichtlich der Bedeutung von Taten und der Verantwortung, derer man sich mit dem eigenen Tun unterwirft. Er ist nicht gut, weil er sowieso nicht anders kann, er ist gut, weil er sich bewusst dafür entscheidet.
Auch bei Kain/Qabil werden wir nicht mit einem eindeutigen Urteil der Verdammnis ihm gegenüber entlassen. Selbst ihn erreicht über den Raben Allahs Rechtleitung. Mit dessen Scharren im Boden scheinen auch die Schichten an Frevel auf Kains Herz langsam an Bedeutung zu verlieren. Er erkennt, dass seine Tat nicht gerechtfertigt, sondern eine Greueltat war. Mit dieser Anerkenntnis des eigenen falschen Handelns wurde er einer von denen, “die bereuen” (Maida, 31). (ek)